Kaiserschnitt - eine Operette

Der einsame Filmemacher Alfred Kaiser hat nach seiner Entlarvung des Dritten Reichs durch gestaltete Konfrontation dokumentarischen Tonfilmmaterials zu einem weiteren Kamerawurf ausgeholt: Kaiserschnitt, altösterreichische Dokumentaroperette um die letzten Tage der Menschheit ist das subtile Ergebnis eines Jahrespensums an Sammeltätigkeit von Bild- und Tondokumenten aus der Zeit von 1895 bis 1915. Was Bild und Ton kontrapunktiert, ist kunstvoll komponierte Manipulation und Entmanipulation gleichzeitig: Weil es das gemütvolle Inferno, das die Originale einst unterzujubeln versuchten, wieder auf jene Wahrheit zurückführt, die "aus einer Mördergrube ein Herz machte" (Kortner). In gespenstischen Klammern werden Verbindungen vom gebrabbelten Herrscherwort bis Wildgans, von Lehar bis Mahler hergestellt. Ein Operettenchanson, das ein amouröses Herzchen auf die Wanderung schickt, schnulzt davon, daß "eine wie die andere ist", überzeugend beim Bild genommen von nebeneinander gebetteten Soldatenleichen.

(Fritz H. Wendl, 1977)


Als "Prolog" zu einer Neuaufführung des Films Kaiserschnitt möchte ich empfehlen: eine Aufnahme vom Endspurt des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker. 700 Millionen Menschen sehen da, wie gemeldet wurde, diese hochoffizielle österreichische Staatsoperette. Da wird liturgisch zum Schluß, der nur ein Happy-End sein kann, der Radetzkymarsch gespielt, unter dem Klatschen der Damen und Herren. Klatschen zu dem Marsch, der Millionen von Soldaten der alten Armee in den Tod geleitet hat.
Der junge Österreicher Alfred Kaiser ringt mit sich selbst, das Ergebnis ist Trauer, Wut, Haß, also: große Liebe. Liebe kann sich in österreichischen Patrioten sehr oft nur in Haß-Liebe, Selbstverstümmelung, Selbstzerfleischung, in einer der vielen Formen des österreichischen Selbstmordes artikulieren. Für Alfred Kaiser ist die Geschichte um 1914 einerseits unendlich fern; die Geschichte um 1914 arbeitet andererseits in ihm sehr stark.(…)
Der Film Kaiserschnitt ist eindrucksmächtig, einbrechend in Tiefenschichten von Menschen, die sich ihm aussetzen, wo er die große Zertrümmerung montiert: in Montagen von "Augenblicken", von Blick-Fetzen, Wort-Fetzen und anderen Bild- und Wort- Fragmentierungen, die aus allen ihren "organischen" Zusammenhängen gerissen, Visionen eines Jüngsten Gerichts bilden. Im Blick auf diese Visionen - Wortvisionen, Bildvisionen - ("erlesen", erwählt aus dem Material vorzüglich der Jahre von 1895 bis 1915) spreche ich den Film des Alfred Kaiser als ein Kunstwerk an, das zu wirklichen Auseinandersetzungen in Schulen und Hochschulen, im Geschichtsunterricht, in Vorlesungen, in Vorführungen und in Volksbildungsheimen, in Stätten der "Erwachsenenbildung", und immer wieder im Fernsehen vorgeführt werden sollte. In diesem Sinne zitiere ich das große Wort aus dem Kommentar Alfred Kaisers zu seinem Film: "Je weniger die Worte bedeuten, desto mehr Menschen müssen für sie sterben."
Diese Komposition eines Totentanzes, der aus vielen Totentänzen besteht, ist ein Kunstwerk von Rang; ist wie jedes Kunstwerk von Rang ein religiöses, ein politisches Dokument, das meist, als Kunstwerk, mehr über "Religion" und "Politik" aussagt, als die öffentlichen Herumsteher sich selbst weiß, schwarz, rot vormachen wollen.

(Friedrich Heer, 1978)


Die Weltmetropolen und die in ihnen vorherrschende elektrisierte Stimmung. Im Gegensatz dazu: „die gemütliche Kaiserzeit“. Eros und Thanatos, das langsame Erwachen (oder doch ein Verdämmern, Verdummen) inmitten des Kriegs. Größere Themenblöcke geraten unter Kaisers Hand in Bewegung – und ins Schwanken. Alfred Kaiser kümmert weniger die historische Akkuratesse als das Gefühl, das sich im damaligen Publikum dieses oder eines ähnlichen Bilder-„Bombardements“ hochgeschaukelt haben mag. Wären der Frühling 1914 nicht derart wonnig, die Nächte nicht so mild, dann wäre die Mobilisierung der kriegsbegeisterten Massen vielleicht schwerer gewesen. Kaiserschnitt fängt ein Fieber ein, wie es auf den Straßen und Plätzen von Wien und Berlin geherrscht haben mag, dreht und wendet es im Spiegel der damaligen Medien, spiegelt es ein weiteres Mal in der sorgfältigen, nun zeitgenössischen Montage, die Kleines und Großes, Derbes und Feingeistiges zum filmischen Vexierbild verbindet.

(Georg Wasner)

Orig. Titel
Kaiserschnitt - eine Operette
Jahr
1977
Land
Österreich
Länge
102 min
Kategorie
Dokumentarfilm
Orig. Sprache
Deutsch
Credits
Regie
Alfred Kaiser
Konzept & Realisation
Alfred Kaiser
Drehbuch
Alfred Kaiser, Edeltraut Kaiser
Schnitt
Alfred Kaiser
Verfügbare Formate
16 mm (Distributionskopie)
Bildformat
1:1,37
Tonformat
Mono
Bildfrequenz
24 fps
Farbformat
s/w