Oceano Nox
OCEANO NOX: Reflexionen zur Aktualität & Nachzeitlichkeit einer filmdokumentarischen Überlieferung von Georg Wasner
Mein Film OCEANO NOX (AT 2011, HD, 15 Min., s/w, Ton) ist eine Bearbeitung einer sechsminütigen Gaumont- Aktualitätenschau aus dem Jahr 1912, die das Ereignis des Untergangs der Titanic thematisiert. Das Ausgangsmaterial exemplifiziert die formalästhetische Poetik dokumentarischer Verfahren im frühen Kino; meine Lesart und filmische Umschreibung durchdringen den Nachrichtenwert des Originals und legen dessen eigentümliche Form frei.
Das im Österreichischen Filmmuseum in Wien gefundene Originalmaterial verstehe ich als „Urtext“ dokumentarischer Praxen: eine Auseinandersetzung mit einem traumatischen Ereignis, oder vielmehr eine frühe filmdokumentarische Auseinandersetzung mit dem Fehlen des initialen traumatischen Ereignisses.
Das Prinzip der Nachzeitlichkeit (Etwas durcharbeiten, nachdem es geschehen ist) als zentrales Moment: ein filmessayistischer Umgang mit Material, das den Auslöser, das Trauma, nicht zeigt, oder nicht zeigen kann, dieses grundsätzliche Unvermögen dafür aber umso mehr thematisiert, steht in Opposition zum journalistischen Anspruch auf Aktualität.
OCEANO NOX, Palimpsest: Vergil schreibt über die Trojaner, Victor Hugo borgt von Vergil, Gaumont borgt von Hugo, dessen vierundsiebzig Jahre früher entstandenes Gedicht Oceano Nox aus dem Gedichtzyklus Les Rayons et les Ombres (!) in den 1910er Jahren common knowledge gewesen sein muss - letzteres wahrscheinlich die einzige „Aktualität“ mit gewisser zeit- und kulturhistorischer Relevanz, anders als die anderen, im Angesicht des schwerwiegenden Ereignisses mageren, für mich gerade deswegen so faszinierenden Film-Aktualitäten, die von Gaumont ursprünglich aneinandergereiht wurden.
TO EXPLORE A TOMB IN TIME von Judith Fischer
Then silence fell, and that was the worst sound of all. 1
Gesichter und Gesten, Rituale und Inszenierungen, der Abspann des Desasters.
Denken in Bewegungen: das Faktische, das Melodramatische, das Fiktive.
Georg Wasner verwendet in OCEANO NOX Wochenschaumaterial zum Untergang der Titanic im Frühling 1912, um eine Art poetischen Meta-Dokumentarfilm zum Frühen Kino herzustellen.
Die Arbeit, die mit an metrischer Strenge formal geübter methodischer Offenheit ihr Material durchdringt, ist eine filmische Recherche in Intuition, Resilienz und analytischer Zuwendung.
Like a healthy human heartbeat, which has an intrinsic irregular system, the body of an artwork gets its vitality from a rhythm based in uncertainty. 2
OCEANO NOX ist im Kontext von Georg Wasners jahrelanger (Forschungs)Tätigkeit im Archiv des Österreichischen Filmmuseums in Wien zu sehen (u.a. zu Dziga Vertov). Der ehemalige Meisterschüler von Peter Kubelka baut Zooms der Aufmerksamkeit: Schärfen werden gezogen, Blickrichtungen und Tempi verändert, Annäherung und Distanzierung wechseln sich ab, ein Eintauchen und Auftauchen, das keiner Doktrin folgt. Die soziale Inszenierung des Umgangs mit einer Katastrophe wird intuitiv und topisch als Palimpsest gelesen.
Wasners Re-Lektüre verhandelt das Archivmaterial medial neu: Der Verzicht auf ein konzeptuelles Korsett ermöglicht einen Blick auf das posttraumatische Terrain und seine ProtagonistInnen und wird 99 Jahre after the fact zu einem Betrachten eines offenen Grabes (dark and silent years 3).
Die Tonspur ist Ergebnis einer gelungenen inspirierten Übertragung: Den kompositorischen Nukleus von Sekhar Ramakrishnan griff die Pianistin Elaine Brennan auf und modulierte diesen in einem Live-Take. Es gelingt so, die historische Praxis der Klavierbegleitung von Stummfilmen zu kommentieren und gleichzeitig zu verkörpern.
These fragments I have shored against my ruins. 4
1 Beryl Bainbridge: „Every Man for Himself.“ The Guardian, 17. 1. 2009.
2 Fanny Howe: „Introduction.“ In: Georges Bernanos Mouchette. New York Review Books Classics 2006.
3 So die Formulierung des Entdeckers des Wracks der Titanic Robert Ballard über die Zeitspanne, in der das Schiff ungehoben 74 Jahre lang am Meeresgrund gelegen war. In: Steven Biel Down with the old Canoe. A Cultural History of the Titanic Disaster. Norton 1996, p. 211.
4 T. S. Eliot: The Waste Land (1922). In: T.S. Eliott The Waste Land and other Poems. Faber and Faber Poetry 1999, p. 39.
Vortrag Georg Wasner zu OCEANO NOX
Oceano Nox
2011
Österreich
15 min