FATA MORGANA

Wollte man den Umfang des Vorhabens von Peter Schreiners Fata Morgana in einem Satz ermessen, käme der Titel des ersten Teils von Martin Heideggers "Sein und Zeit" gerade recht: "Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein." Mit nicht weniger als der Frage nach dem Sinn von Sein nämlich, d.h. mit einer Frage, für die der aufgeklärten, säkularen Moderne das Verständnis fehlt, sind die drei Protagonisten des Films (Awad Elkish, Christian Schmidt, Giuliana Pachner) 140 Minuten lang beschäftigt.

Allerdings nicht im Sinn einer ontologischen Existenzialanalyse, sondern einer Versuchsanordnung, deren Parameter Schreiner gleich in der ersten Einstellung offenlegt. Sie zeigt die Protagonisten als drei Figuren in einer Landschaft. Awad Elkish ergreift das Wort: "Der Mensch musste einen Bezugspunkt oder einen Halt finden, und das ist schon ein kreativer Prozess." Der Satz ist weder an seine Mitspieler gerichtet noch an ihn selbst, er geht an der Kamera vorbei in ein unbestimmtes Nirgendwo dahinter, adressiert eine Stelle, an der der Regisseur sich befinden könnte, die Crew oder einfach die Fortsetzung der sichtbaren Landschaft – jene Wüste, deren Funktion für die Versuchsanordnung Awads nächste Äußerung klarstellt: "Der Raum ist ausgeräumt."

Tatsächlich könnten die ausgeräumten, verlassenen, leeren Räume geologischer und industrieller Wüsten in Fata Morgana als Sinnbild der Sinnsuche gelesen werden: In Heideggers Verständnis würden sie die zumindest räumliche Abkehr von jener uneigentlichen "Flucht des Daseins vor sich selbst" bezeichnen, das im Besorgen der Alltagsgeschäfte aufgeht. Der Lesart widerspricht, dass Kamera und Mikrofon unablässig die konkrete materielle Präsenz der leeren Räume betonen: Mag die Zeit der transzendentale Horizont sein für die Frage nach dem Sein, im Kino des Peter Schreiner kann diese nur gestellt werden im Hier und Jetzt des gelebten Augenblicks. (Vrääth Öhner)


Was wird von dieser Wüste bleiben?
Ich hasse meine Ängste. Aber wohin soll ich fliehen?
Wo ist der Ort, an dem ich bleiben kann?
Denken, ohne zu fühlen? Fühlen, ohne zu denken?
Mein Leben ist ein Haus am Rand der Wüste. Drin bin ich geborgen und gefangen.
Und Du bist da. Nah und doch fern, vertraut und doch fremd.
Und das, und alles, ersehnen und fürchten wir. Wir können nicht anders. Giuliana und Christian wohnen in diesem Haus, in mir, in meinem Leben. Giuliana: „…ich stelle mir die Seele so vor: ein Haus mit verschlossenen Türen, die man sehr vorsichtig öffnen muss…“
Christian: „…da gibt es etwas, das wir ergründen sollen. Doch ich bezweifle, ob man zufriedener ist, wenn man es ergründet hat…“
Ihre Wunden sind meine Wunden. Gefühl und Gedanke zugleich.
Und es wird keine Liebesgeschichte. Oder doch?
Soll ich anfangen, meine Ängste zu lieben?
Giuliana: „…vielleicht hat dieser Tod draußen, der schon viele vertrieben hat, auch unsere Gefühle vertrieben?...“
(Peter Schreiner)

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Weitere Texte

Einige Gedanken zu meinem Film FATA MORGANA

…meine innerste Intention bei diesem Film ist die Angst vor dem Verlust einer ‚Erdung‘, die Ahnung, dass Bestehendes zerbrechen könnte, ja, in den psychischen Innenräumen der Menschen bereits begonnen hat, zu zerbrechen; vielleicht auch: die Angst, dass etwas zerbrechen muss, damit Menschlichkeit überleben kann.

Für mich ist es der (leidenschaftliche) Versuch, mein Gefühl von ‚Defiziten‘ zu teilen, mitzuteilen – irgendwie lebenswichtig für mich – (wenn das vielleicht auch pathetisch klingen mag) – und wir sind ja tatsächlich mit der Filmarbeit in diese ‚Defizite‘ auch hineingeraten: nicht nur der Krieg in Libyen, sondern etwa gab es keine geringen Konflikte in jedem Einzelnen von uns - ganz zu schweigen von den Verletzungen und Verletzlichkeiten, die wir zu bearbeiten hatten.

Und nicht zuletzt auch die Landschaften, die - wie nach außen projizierte Innenwelten - auf uns (und in den Film) zurückwirkten (etwas wird uns genommen, verschwindet, und wir bekommen es ‚verwandelt‘ wieder zurück). ‚Drehbuch‘ des Films war ja, die Möglichkeit zu schaffen, dass all diese psychischen Momente sich im Film ‚abbilden‘ sollten – um als Abstrakta ‚begreifbar‘, als Metaphern ‚erträumbar‘ werden zu können. Ich wollte mit dem Film helfen, (zuerst einmal meine) Gefühle zu klären, dann zu ‚ordnen‘ – einen ‚Ort‘ für sie schaffen – denn wo sonst hätten unsere Empfindungen, besonders jene, die uns über uns selbst hinauswachsen lassen, einen ‚Ort‘, als in dem, was die Gesellschaft heute ‚Kunst‘ nennt - und das vielleicht ein letzter Zufluchtsort ist in all der rasenden Atemlosigkeit des Konsums, die uns umgibt, uns durchdringt-

Ich maße mir an, meinen Film ‚aktuell‘ zu finden; er ist mein Statement zur ‚aktuellen‘ Lage (auch zu meiner eigenen natürlich), vielleicht am stärksten von allen meinen Filmen, für mich jedenfalls am drängendsten. Man spricht heute viel von einer ‚fundamentalen Krise‘. FATA MORGANA versucht, eine solche Krise im psychischen Bereich zu ‚mikroskopieren‘. Möglicherweise könnte das ja auch ‚brauchbar‘ sein für die Menschen – und vielleicht eine Bereicherung – für das Kino, als Ort der traumhaften Selbstreflexion.

Peter Schreiner, August 2012

Rotterdam 2013. Trembling Disturbed (Artikel)

Rotterdam 2013. Trembling Disturbed

Written by Daniel Kasman

http://mubi.com/notebook/posts/rotterdam-2013-trembling-disturbed. Published on 28 January 2013

(...) I couldn`t have followed this earthily oneiric short with more direct continuity than with another experimenter transporting what is before a camera to a grander, broader plane, one even more splintered from a recognizable world. Austrian filmmaker Peter Schreiner`s Fata Morgana, suffuse in its every digital pixel with impassioned anguish, abstracts a relationship between two actors into an experience, resolutely painful and searching, of two souls. Two humans fill the frames, both seemingly of the same craggy later middle age, but the woman aged physically beyond her years, and her ticks, her halting words, and most especially her eyes tell expansive but enshrouded stories of a personal history of endless crestfalls and hurt. Realism here is only digital: faces as big as landscapes, details of beard bristle and eye wrinkle beyond comparison, and landscapes themselves–German interiors, Libyan exteriors–voidlike negative space.

There is no realism in the dramaturgy, no plot, no everydayness. A rare scene of the man eating food seems a shock in a film where people don`t eat, sleep, work, do–they exist, serch within, ricochet glances out to search the other before turning, again, inside themselve, asking silent questions, voicing rare, fragmented thoughts. It is the strongest cinematic expression of ghost and ghostly existence I have seen. All is held, all is almost. Sentences are not completed; exchanges search for words, always abstract, to describe a real life experience and feeling that could not possibly have happened here, in the digital sheen, like an unfurling silver nitrate photography, of Schreiner`s filmworld. This world is elsewhere, as are its two inhabitants.

Most powerful of all is that these sole survivors (only one other person is visible in the film, an unexplained presence in the Libyan desert) bespeak of an intimacy between the two that is deep and profound and loving–but a mystery. It is one which invokes a foreboding sense of documentary, especially because the man has a caretaker aspect to him, a difference and a kindness, in his way of of looking after the woman that is not returned in measure, and that which ties the film back to Loznitsa`s Letter and infirmity... and exile. The level of dramatic abstraction feeds into this as well, evoking a piercingly vague non–concreteness to dialog, exchanges, moments, evoking dementia, trauma, amnesia. Yet this psychic–emotional–mindful/lessness shares equal time and space with the textures of faces and hands, the sharpness or whispiness of irises, the satin digital pattern of a house or a landscape. It evoked for me two distinct and different digital portraits of age, distance, and loneliness from 2012, Stephen Dwoskin`s final film, Age Is... and Jean–Claude Rousseau`s Saudade, taken into outer space–or perhaps no space, taken into a very psychic and intimately physical netherworld.
Orig. Titel
FATA MORGANA
Jahr
2012
Land
Österreich
Länge
140 min
Kategorie
Dokumentarfilm
Orig. Sprache
Deutsch
Untertitel
Englisch
Credits
Regie
Peter Schreiner
Konzept & Realisation
Peter Schreiner
Kamera
Peter Schreiner
Musik
Johannes Schmelzer-Ziringer
Schnitt
Peter Schreiner
Tonaufnahmen
Leo Schreiner, Johannes Schmelzer-Ziringer
Tonmischung
Johannes Schmelzer-Ziringer
Produktion
echt.zeit.film
Darsteller*in
Awad Elkish, Christian Schmidt, Giuliana Pachner
Mitarbeit
Maria Schreiner
Mit Unterstützung von
Wien Kultur, Innovative Film Austria
Verfügbare Formate
DCP 2K flat (Distributionskopie)
Bildformat
16:9
Tonformat
Dolby Digital
Bildfrequenz
25 fps
Farbformat
s/w
Digital File (prores, h264) (Distributionskopie)
Festivals (Auswahl)
2013
Rotterdam - Int. Filmfestival
Graz - Diagonale, Festival des österreichischen Films
Bradford - International Film Festival
Wroclaw - New Horizons Festival
Basel - Bildrausch Film Festival
Cluj - Transilvania Film Festival
Karlovy Vary - Int. Film Festival
Montréal - Festival du Nouveau Cinéma
Sao Paulo - Mostra Internacional de Cine
2014
Sofia - SO Independent FIlm Fest