Andri 1924-1944
Wie erzählt man eine Geschichte, die man nur vom Hörensagen kennt? Eine Geschichte, die nicht aufgeschrieben wurde, von der es kaum Bilder gibt. Eine Lebensgeschichte, die nach 20 Jahren mit einer Ermordung endet und nur in vereinzelten, stellenweise verblassten und hier und da nachgefärbten Erinnerungen weiterlebt. Die Räume dazwischen sind weiße Flecken auf fragmentarischen historischen Landkarten - Projektionsflächen für schlüssig wirkende Fortschreibungen und persönliches Befinden. Andrina Mraçnikar hat die Geschichte von Andri, dem Bruder ihrer Großmutter, in ihrer Kindheit aufgelesen wie Teile eines großen unvollständigen Mythen-Puzzles, in dem auch Hitler, Jesus und Schneewittchen ihren Platz einnahmen. Andri, der von der Gestapo gesuchte Deserteur und im November 1944 hingerichtete Partisan, spielte die Rolle des Helden. Und die Partisanenlieder der Kärntner Slowenen bildeten den persönlichen Soundtrack.
Ein halbes Jahrhundert später nimmt Andrina Mraçnikar die Puzzle-Teile wieder auf und legt sie zusammen - und zwar nicht, um daraus ein historisch vollständiges Bild zu rekonstruieren, sondern um im klug arrangierten Ineinandergreifen von Motivumrissen und Leerräumen den Prozess der Geschichtsbildung zur Entfaltung zu bringen.
Statt die von der unprätentiös sinnierenden Erzählstimme der Filmemacherin erörterten Sachverhalte zu illustrieren, folgt der Kamerablick den filigranen Spuren, welche das Ensemble aus Erinnerungen, Assoziationen und vagen Mutmaßungen in die unbefleckt erscheinenden Landschaftsbilder der Gegenwart zeichnet. Diese Spuren führen in Andri 1924-1944 nicht zu Lichtungen, die vergangenes Geschehen als vollendete Tatsache zur Ansicht bringen. Vielmehr verdichten sie sich zu jener feinmaschigen Textur aus Konkretem und Erahntem, als welche sich Vergangenheit in der Wahrnehmung der Rückblickenden fortschreibt.
(Robert Buchschwenter)
Das stärkste Mittel der Narration ist die Stimme der Regisseurin, die sanft anklagt, gleichzeitig aber alles Gesprochene auf das Eine reduziert: Die Trauer, ihren Großonkel nie getroffen zu haben. Die zeitliche Barriere zwischen Andrina Mračnikar, der Filmemacherin, und Andrina, dem Mädchen, das mit 2 schon das Wort Nazi kannte, fällt, und der Verlust, der durch die Zeiten währt, wird deutlich.
(Thomas Taborsky, In: Videofreak)
Die Bewegung der Kamera (Artikel)
Die Landschaft widersteht dem Erinnern, sie widersteht auch dem Vergessen. Wenn die durch die Bäume gebrochenen Sonnenstrahlen auf den Schnee der Äcker treffen, leuchten sie behutsam starre Räume aus. Die Spuren sind darin eingeschlossen, festgefroren und nicht greifbar. Das Haus, der Stadel, die Küche. Stationen einer unbeschreiblichen Flucht im engsten Radius. Überall noch hängen die Angstgedanken, die Selbstvorwürfe, die persönlichen Überzeugungen. Im Sonnenlicht sieht man sie nicht, alles ist friedlich, idyllisch, wenn man so will. Über zwei Generationen sind diese kleinen Schauplätze teils gehütet, teils verschwiegen worden, bis Andrina Mračnikar die Kamera auf sie richtete und versuchte, etwas von der Geschichte ihres Großonkels Andri einzufangen, die auch die Geschichte ihrer Familie ist, der Region und der Zeit. Mit einer hoch poetischen Dokumentation machte sie etwas vom Leben des Andreas Ogris sichtbar – spinnwebenfein und dicht, ohne Handlung, nur mit der Bewegung der Kamera. Es ist die Bewegung mit geringsten Mitteln, entsprechend der Flucht von wenigen Schritten. Die Bewegung zwischen Nicht-Vergessen und Nicht-Vergessenwerden. Darinnen liegen die knappen historischen Fragmente, die Sammlung von Beschreibungen, Erinnerungsfetzen, Andeutungen, daraus schöpfen die Ahnungen und die Hinneigung. Mit 20 Jahren wurde Andri erschossen, etwa in dem Alter von Andrina Mračnikar, als sie sich aufmachte, einem ständig präsenten Bild Konturen zu verleihen. Der Held ihrer Kindheit, für immer jung geblieben, nur nach innen betrauert. Der älteste Sohn der Familie Ogris wurde zur Wehrmacht eingezogen, an Knie und Ferse durch eine Granate verwundet , kam auf Urlaub und schloss sich den Partisanen an. In den Wäldern entzündeten sich seine Wunden und er suchte zu Hause Zuflucht. Von da an war die Familie in Ludmannsdorf/Bilcovs in größter Gefahr. Andri wechselte die Verstecke: Im Stadel oben lag er in einer ausgehöhlten Grube im Beton, abends mit Brettern zugedeckt; ein Sarg ebenso wie die Hohlräume zwischen zwei Kaminen und über dem Herd im Haus. Angefangen von der erst vierjährigen Mici mussten die Schwestern auf dem Hof Wache stehen. Es half nur wenig: ´Mitten in der Nacht kamen sie, etwa 50 Soldaten. Sie haben uns aus den Betten gerissen wie Katzen´. Lizi war damals schon 14, sie ist die einzige, die davon erzählen kann, und auch damit hat sie erst spät begonnen: ´Ich hatte nur die Erinnerungen meiner Großmutter´, sagt Andrina Mračnikar, ´Jetzt ist sie 75, und ich denke daran, wieviel Zeit sie ohne ihn verbracht hat.´ Die GESTAPO verhörte sogar die Kinder, der 17-jährige Cenzi und der Vater wurden ins KZ Dachau gebracht, der andere Bruder Hanzi zwangsrekrutiert, die restliche Familie in Arbeitslager deportiert. Andri wurde nicht mehr im Haus, sondern wieder bei den Partisanen gefunden und ermordet. Damit nach dem Krieg das Familienfoto ein komplettes Bild ergab, wurden er und der gefallene Hanzi nachträglich hinein montiert.
´Andri 1924 –1944´, Film, Dokumentation und Essay, lyrische Klage mit sparsamster Filmtechnik, zweisprachiges Kleinod zur Frage des politischen Widerstandes, heimste reihenweise Preise ein (Diagonale Preis der Jury der Diözese Graz-Seckau, Förderungspreis des Landes Kärnten, Goldener Bobby Filmfestival Wien) und wird immer wieder in Kinos, Bildungseinrichtungen, Kulturhäusern, Unis gezeigt – ein Lied der Südkärntner Landschaft, der Leiden der Bevölkerung, aber auch ein Denkmal einer unverheilten Familienwunde. Es ist die bekannteste, aber nicht die erste Arbeit der Jungfilmerin. Bereits mit 13 Jahren schrieb Andrina Mračnikar das Drehbuch für ´Bo bilo´, ein Gemeinschaftsprojekt von Film Mladje mit Miha Dolinsek, das beim Internationalen Kurzfilmfestival in Ebensee den Preis für den besten Jugendfilm erhielt. Ebenso wie ´Vecernica´, eine "Gute-Nacht-Geschichte" über Jugendliche mit zwei Sprachen, die zusammen eine Nacht verbringen. Die Autorin kümmert sich inzwischen nicht nur um Drehbuch und Schnitt, sondern auch um die Regie. Die Kurzfilme ´Meine Stimme wäre still´ über eine alleinerziehende Mutter und ´Rosi oder das Feuer´, Szene in einem Frauengefängnis, entstanden 2003/2004. Andrina Mračnikar, aufgewachsen in Ljubljana und Keutschach, studiert zunächst Filmregie an der Akademie für Theater, Radio, Film und Fernsehen in Ljubljana und jetzt an der Filmakademie in Wien. Sie entwickelt einen verhaltenen, in seiner Zurücknahme aufregenden Stil. Durch Assoziationen und Verdichtungen werden Lebenssituationen ans Licht gehoben, gewinnen Bedeutung und Dasein. Minimale Arrangements verbinden sich mit beharrlichen Fragen zu einer fein gewobenen Aussage, die im Betrachter wirksam wird. ´Andri´ war der Schlüssel auch zu einem größeren Film über Widerstand, an dem sie derzeit arbeitet. Andrina Mračnikar, Vertreterin einer meisterlich zarten, reduzierten, politisch fragenden Filmkultur, geht auf die Suche nach Menschen und ihrer Wahrheit.
Jurybegründung (Artikel)
Ihren Preis spricht die Jury Andrina Mračnikar für "Andri 1924 – 1944" zu. Ihre persönliche Suche nach Spuren der Erinnerung und Formen des Erinnerns fügt sie zu einem ganz einmaligen, geschlossenen, reifen und differenzierten filmischen Ausdruck. Vom Persönlichen ausgehend, doch ohne sich selbst in den Vordergrunds zu schieben, taucht die fragmentarische Figur ihres Großonkels aus dem Schatten des Vergessens und der Legenden auf. Die Gedanken finden sich Bilder, die sich nicht bebildern, das Entdecken findet Rhythmus, der sich nicht vorschnell fügt, das Ziel bleibt ein Schemen, der Friede ist noch hinter dem Horizont. Andrina Mračnikar hat uns ein ganz außergewöhnliches Kleinod geschenkt.
Andri 1924-1944
2003
Österreich
19 min
Essay
Deutsch
deutsche Sprachversion, Englische Sprachversion