Sag es mir Dienstag

"Sag es mir Dienstag", bat Franz Kafka in einem Brief an Milena Jesenská. Am Dienstag würde er seine Fahrt nach Prag in Wien unterbrechen, um sie zu sehen: "Es wäre ja sehr vernünftig, wenn ich heute schon sagen würde, wo ich dich erwarten will. Aber ich würde bis dahin ersticken ... Gibt es überhaupt Milena auf der Welt so viel Geduld, wie für mich nötig ist. Sag es mir Dienstag."
Kafkas Sehnen nach einem Wiedersehen mit Milena, mit der er schließlich vier Tage in Wien verbringen wird, steht im Zeichen des Aufschubs, der Verschriftlichung in Briefen und Tagebucheintragungen. Ein zitterndes Davor, ein abgezehrtes Danach umkreisen jene Julitage des Jahres 1920, deren tatsächliche Ereignisse letztlich Leerstelle bleiben.
Astrid Ofner hat für Kafkas Liebesbriefe an Milena zerbrechliche Bilder gefunden, die genau jene Leerstelle zulassen, sie sichtbar machen, sie nicht verschließen.
Eine filmische Suchbewegung nimmt an den Rändern von Wien ihren Anfang. Sanfte Wellen schlagen an die Donauufer bei Kritzendorf. Steine, Wasser, Wolken - "über allem eine Ahnung von Wien". Ofner filmte mit der Handkamera auf Super-8, in brüchigen Farben, in körnigem Schwarzweiß, in einsamen Fahrten durch die Stadt. Sylvie Rohrer liest Kafkas Aufzeichnungen aus dem Off und verankert mit behutsamer Stimme seine Texte im Fluss der Bilder, während Musik von Webern vorsichtig schwebende Hörwelten öffnet. Die Lichter des Riesenrades flackern in nachtschwarzer Fahrt hinter Strommasten, anonymer Verkehr kreist im Dunklen. Brücken führen über die morgengraue Donau, U-Bahnen verlassen die klamme Station.
Dem Filmmaterial ist das Vergängliche eingeschrieben, doch Astrid Ofners Blick verweigert sich jeder Sentimentalität. Stattdessen erzeugt sie eine Zeitlosigkeit, die sich mit der Erinnerung an Geschichte füllt. Selten hat man Wien so gesehen.

(Alexandra Seibel)


Anfang Juli 1920 hält sich Franz Kafka für vier Tage in Wien auf und verbringt den größten Teil seiner Zeit gemeinsam mit Milena Jesenskà. Das Davor und Danach ist in einer Folge von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen dokumentiert, die Tage selbst sind Kafkas und Milenas Geheimnis. Ein Geheimnis, für das die Filmemacherin Astrid Ofner eine Folge von zugleich konkreten und frei assoziierten Bildern und Bewegungen komponiert, ein filmisches Vorbei jenseits von Einfühlung und Illustration, strukturiert von den Texten Kafkas und der Musik Anton von Weberns. «Es geht ja nicht vorüber, niemals», schreibt Kafka, «und es ist doch ein dummer Scherz zu sagen, dass es nicht aufhört.»

(Produktionsnotiz)

Orig. Titel
Sag es mir Dienstag
Jahr
2007
Land
Österreich
Länge
26 min
Kategorie
Essay
Orig. Sprache
Deutsch
Untertitel
Englisch, Französisch
Credits
Regie
Astrid Johanna Ofner
Kamera
Astrid Johanna Ofner
Musik
Anton von Webern
Schnitt
Maragh-Ablinger
Textautor*in
Franz Kafka
Stimme
Sylvie Rohrer
Produzent*in
Astrid Johanna Ofner
Verfügbare Formate
35 mm (Distributionskopie)
Bildformat
1:1,37
Tonformat
Dolby Surround
Bildfrequenz
25 fps
35 mm (Distributionskopie)
Bildformat
1:1,37
Tonformat
Dolby Surround
Bildfrequenz
25 fps
Festivals (Auswahl)
2007
Viennale - Vienna Int. Film Festival
2008
Paris - Cinéma du Réel
Buenos Aires Festival Int. de Cine Independiente BAFICI
Graz - Diagonale, Festival des österreichischen Films
Pesaro - Film Festival
Toronto - Int. Film Festival
Vila do Conde - Festival Internacional de Curtas-Metragens (Lobende Erwähnung)
München - UnderDox, Festival für Dokument und Experiment
Copenhagen - cph:dox, Intl Documentary Film Festival
2009
Hong Kong - Int. Film Festival
2010
Chennai - Women's Film Festival