Totó

Nahaufnahme eines Unbehausten

Antonio Cotroneo, ein Mann um die fünfzig, den in seiner kalabrischen Heimatstadt alle Totó rufen, lebt seit Jahrzehnten im selbst gewählten Exil. Mittlerweile verheiratet mit einer Österreicherin und Vater von vier Söhnen, verdient der studierte Politologe sein Geld als Saalwächter im Wiener Konzerthaus. Solche biografischen Daten interessieren Peter Schreiner in seiner filmischen Nahaufnahme des Menschen Totó allerdings nur am Rande. Totó, der Film, versteht sich vielmehr als Auffangschale für die Gedanken und Stimmungen des Protagonisten.
Mit der Kamera begleitet Schreiner, zugleich auch Tonmann und Regisseur, Totó auf seinen Bahnreisen zurück in die alte Heimat. Während dieser mal in eigenwilligem Deutsch, mal auf Italienisch der eigenen, unbestimmten Sehnsucht Ausdruck gibt, ruht das Kamerabild auf den Details seines Gesichts: den buschigen Brauen, den blinzelnden Augen, der trotzig vorgewölbten Unterlippe. Ebenso nah wie das Bild rückt Totó dabei der Ton: Oft ist es nur sein Atem, der die Tonspur füllt, ein Seufzen und Stöhnen, als trüge jemand eine schwere Last. Das Werkzeug der Sprache allerdings erweist sich als unzureichend, in Totós Bemühen, das Wesen dieser Last zu fassen.
Totós Welt ist eine Welt der Zwischentöne. Nicht Heiterkeit, nicht Trauer bestimmen seinen Alltag, sondern die stete Melancholie des Außenstehenden, der das aktive Leben der anderen mit geschärften Sinnen wahrnimmt, ohne es zu teilen. Schreiner filmt Totó bei der Arbeit im Konzerthaus. Leicht schief lehnt er zwischen Marmor und Spiegeln an der Treppe; gleich einem zu schnell aufgeschossenen Jungen wirft die Livreehose über den Knöcheln Falten. Durch das plaudernd hinabströmende Publikum fokussiert die Kamera auf den Mann mit den Programmheften: Der nachdenkliche Einzelne, abgelöst vor der Bewegung der Masse. Ein Sujet atmosphärischer Entfremdung, wie es Edouard Manet in seinem letzten großen Gemälde „Bar in den Folies-Bergère“ festhielt: das ernste Mädchen hinter der Bar des Vergnügungs-Tempels. Hier wie dort ein Mensch, der bei sich ist, in einer Welt der Spiegel.
Wie Manet arbeitet auch Schreiner in seinem Porträt des anwesenden Außenstehenden mit den Zwischentönen des Lichts. Dazu wählt er, wie in all seinen Filmen seit 1982 Filmmaterial in Schwarzweiß.
Die schmuck-polierten, marmorverkleideten Hallen des Wiener Konzerthauses kontrastiert der Filmschnitt mit den schroffen Felsen von Totós Heimatstadt Tropea, einer Ansammlung mittelalterlicher Häuser, die sich hoch über dem tyrrhenischen Meer an eine Klippe krallt: Hier sei seine Heimat, sagt Totó, hier sei er früher beschützt gewesen. Von unten durch sein Meer. Von oben durch den Himmel.
Heute jedoch bezeugen die Reaktionen der Menschen, die Totó auf seinen Spaziergängen trifft, dass er selbst zum Fremden geworden ist. Er, der über die Touristen im malerischen Tropea sagt, nie könnten sie den Ort begreifen, ist mit den Jahren selbst Tourist geworden, in den Räumen der eigenen Erinnerung. So streift Totó durch die Gassen, besucht die dunklen Kalksteinhöhlen, plauscht mit dem letzten Fischer von Tropea und Melo, dem zahnlos gewordenen Jugendfreund, und bleibt doch unbehaust beim Versuch die eigene Seele wieder einzuquartieren in den zu klein gewordenen Räumen der Kindheit.
(Maya McKechneay)

Totó hat als jugendlicher Rebell seinem Geburtsort den Rücken gekehrt.
Seit damals steht er zwischen den Welten, mit seiner Sprache, mit seinen Gefühlen, mit seinen Träumen. Geboren im kalabresischen Ort Tropea, seit dreißig Jahren verheiratet mit einer Wienerin, lebt er heute als Emigrant in Wien, nach jahrzehntelangem, rastlosem Suchen nach einem Wohnort für sich, seine Frau und die vier Söhne. Mit seinem fünfzigsten Lebensjahr wird die Sehnsucht nach seinem Heimatort, das Gefühl, etwas verloren zu haben, so groß, dass Totós Gedanken immer stärker um seine Kindheit und Jugend in Süditalien kreisen. Während seiner Tätigkeit als Billeteur im Wiener Konzerthaus entstehen so, als Notizen im Kalender, die ersten Gedichte in seiner Kindersprache, dem tropeanischen Dialekt. Das Schreiben weckt nicht nur Erinnerungen an das verlorene „einfache Leben“, sondern auch an längst vergessen geglaubte Gefühle und Begegnungen. Totó, der mit dem Gedanken an eine Rückkehr spielt, auf der Suche nach sich selbst, in Wien und auf dem "Borgo", der Straße seiner Kindheit, die dort endet, wo eine Steintreppe hinunter zum Meer, zur großen Freiheit führt… (Produktionsnotiz)

Weitere Texte

Peter Schreiner zu TOTÓ

Totó lebt jetzt seit Jahren schon in Wien. Für ihn ist es, wie er manchmal - nicht ohne Erschrecken - zu spüren glaubt, eine Art Endstation.
Totó ist Antonio. Im kalabresischen Tropea, wo er in den frühen Fünfzigerjahren geboren und aufgewachsen ist, nannten ihn alle Totó.
Als linker Student der politischen Wissenschaften in den Siebzigern hat er seiner Heimat den Rücken gekehrt. Nach Jahrzehnten der Flucht vor den dunkel bedrohenden Engen der Kindheit, der eigenen Familiengeschichte, vor dem, was man gemeinhin Heimat zu nennen pflegt, landet er schließlich in Wien, betritt ein Niemandsland.
Viel an Kraft ist verbraucht. Viele Kanten sind abgeschliffen. Manchmal herrscht das Gefühl von Müdigkeit und Leere. Seit einiger Zeit hat sein Fliehen, seine Suche, aber eine neue Wendung genommen. Zweimal in der Woche steht Totó am Abend im Konzerthaus, als einer der fünfzig Billeteure.
Nur wenig ist hier zu tun. Alles, was zu geben, zu verlieren ist, ist Zeit.
Einmal, als Branduardi in einem der Säle auftritt, hinter den Polstertüren, setzt sich etwas in Totó in Bewegung. In seiner Jackentasche findet er einen zerknüllten, unbeschriebenen Zettel, glättet ihn, und schreibt die ersten Zeilen seit den Jahren seiner Doktorarbeit. Er lässt sich fallen, fällt weit zurück in seinem Gefühl, bis in die eigenen Kindertage, Jugendtage.
Die Wörter fließen in tropeanischem Dialekt auf das Papier.
Ein erster Text entsteht, geschrieben in seiner geliebten, dann verachteten, dann vergessenen Kindersprache.
Totó steht dazwischen. In Wien wird er immer Süditaliener bleiben, in Tropea immer jener, der einst arrogant genug war, woanders Besseres zu vermuten. Die Jahrzehnte im Norden sind nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Es waren immer mehr die "einfachen" Leute, denen er sich zugehörig fühlte. Totós Neigung, sehr persönliche Probleme auf einer global-politischen Ebene zu betrachten, ist ein Ergebnis seines "politisierten" Selbstverständnisses, das ihn stets bewogen hat, sich mit den Unterprivilegierten, Leidenden zumindest "im Kopf" zu solidarisieren, ja, letztlich sich selbst als ebenso unterprivilegiert und leidend zu empfinden. Eine Existenz innerhalb des ritualisierten Lebens der Gemeinschaft erscheint ihm zunehmend unmöglich. Er träumt von Befreiung, Ausbruch, hinein in ein neues Leben, in neue, bisher ungeahnte Möglichkeiten von Beziehung und Koexistenz. Totó benennt jene Angst, der er in seinem Heimatort begegnet, die aber auch tief in ihm selbst verborgen ist, in Versen:
Angst vor einer Begegnung / einer Annäherung / vor einfachen Gefühlen / Furcht vor Veränderung / Angst zu sprechen / zu entgegnen, zu träumen / Angst vor Widerspruch und Ungehorsam / demgegenüber, der dich nur unterdrücken kann / Angst, dich zu zeigen / leiden, um zu verändern / die alte Welt zu fällen
Ist es die Angst, jedwedes Risiko einzugehen, sich von der schützenden Mutter zu entfernen, Angst davor, abzudriften in die eigene Bedeutungslosigkeit, Leere, Sinnlosigkeit, Angst vor dem Nichts, letztlich vor dem Tod? Und ist für Totó nicht eine neue, vielleicht größere Angst an Stelle der alten, überwunden geglaubten, getreten, unbemerkt, aus der Tiefe?
Eine nicht näher definierbare Angst, eine Angst ohne Namen, bodenlos, als habe man
ALLES verloren, verspielt, ohne diese Kinderheimat, die einem ALLES war.
Beim Wiedersehen ist die Freude groß, aber die innere Beziehung ist verändert. Man braucht einander nicht mehr. Zwar bricht dieses Gefühl, in dem Augenblick, in dem man sich sieht, aber: die Zeit ist knapp. Und du bleibst enttäuscht zurück, einsamer als vorher. Ich bin da, aber ohne Wert.
Ich suche da etwas, das mir immer wieder entgleitet, erlebe, wie das Leben bitter wechselt, die Wege sich trennen. Heute ist jeder Emigrant in seinem Dorf, trägt die Sehnsucht nach einem anderen, dem wahren Leben, mit sich herum. Etwas macht sie fremd in ihrer eigenen Heimat.
(Peter Schreiner)

Jury-Comment/Jury-Begründung ZagrebDOX 2010 (Preis (Auszeichnung))

BIG STAMP in Regional Competition to:
Toto, directed by Peter Schreiner


‘Toto’ is a film of pure contemplation. Time comes to a halt and inner voices seem to whisper into our ears. Toto is on road to his roots, living in between two cultures. Peter Schreiner has the courage to make a formally strict film about a person we would never have noticed, and takes us on an inner journey into lost identity and childhood.

Jury-Begründung, Diagonale 2010 (Preis (Auszeichnung))

Beste Bildgestaltung Dokumentarfilm 2009/2010
gestiftet vom Verband Österreichischer Kameraleute AAC
Preisträger: Peter Schreiner für Totó

Die Begründung der Jury:
„Regisseur und Kameramann Peter Schreiner schafft es, das Fern- und zugleich Heimweh von Totó in Bilder zu fassen, die jenseits jeglicher filmischer Konventionen liegen. Er arbeitet mit bewussten Auslassungen, die Räume eröffnen und Zeit lassen für Gedanken und Gefühle. Er setzt wunderschöne Schwarzweißbilder ein, die in einem Wechselspiel von Vorder- und Hintergrund, von Schärfe-Unschärfe sowie extremen Großaufnahmen, eine visuelle Dramaturgie und Poesie entstehen lassen. Seine ungewöhnlich starke Bildsprache ermöglicht somit einen unmittelbaren Zugang zur Hauptperson. Mehr und mehr wird man in die Innenwelt des Protagonisten hineingezogen und gleichzeitig öffnet der Film neue Räume für eigene Gedanken. Peter Schreiner verdanken wir ein Filmerlebnis, das lange nachwirkt.“

Orig. Titel
Totó
Jahr
2009
Land
Österreich
Länge
128 min
Kategorie
Dokumentarfilm, Essay
Orig. Sprache
Italienisch, Deutsch
Untertitel
Englisch
Downloads
Totó (Bild)
Totó (Bild)
Totó (Bild)
Credits
Regie
Peter Schreiner
Drehbuch
Peter Schreiner
Kamera
Peter Schreiner
Schnitt
Peter Schreiner
Ton
Peter Schreiner
Produktion
echt.zeit.film
Produzent*in
Gerhard Kastler
Produktionsleitung
Susanne Schreiner, Gerhard Kastler
Verfügbare Formate
35 mm (Originalformat)
Bildformat
1:1,85
Tonformat
Dolby Surround
Bildfrequenz
25 fps
Farbformat
s/w
Digital File (prores, h264) (Distributionskopie)
Festivals (Auswahl)
2009
Venezia - Mostra Int. d`arte Cinematografica
Viennale - Vienna Int. Film Festival
Duisburg - Duisburger Filmwoche
2010
Rotterdam - Int. Filmfestival
Buenos Aires Festival Int. de Cine Independiente BAFICI
ZagrebDOX - Documentary Film Festival ("Grosser Stempel" im Regionalwettbewerb)
Graz - Diagonale, Festival des österreichischen Films (Diagonale-Preis Best Bildgestaltung Dokumentarfilm)
Jeonju - International Film Festival
Bradford - BAF Animation Festival
Cluj - Transilvania Film Festival
Brussels - Cinédécouvertes
Lissabon - DocLisboa
Denver - Int. Film Festival
2011
Koohnê - Ânûû-rû âboro Festival