O.T.
Markus Scherers vierminütiger Film O.T. beginnt wie ein Landschaftsbild des 19. Jahrhunderts. Mächtig ragt ein verschneiter Berggipfel in die Höhe. Der unbewegte Blick der Kamera lädt zu einer eingehenden Betrachtung ein: Man erkennt die steilen Felsflanken, auf denen kein Schnee liegen blieb, nimmt die plastischen Ausstülpungen von Verwehungen wahr, die leicht gesteppte Oberfläche der weißen Felder.
Die Tonspur besteht aus einem sehr tiefen Dröhnen, das den Betrachter tiefer in die Versenkung hineinzieht. Allmählich löst sich die Gewissheit über das Gesehene auf. Wird hier tatsächlich ein Berg oder nur ein kleiner schneebedeckter Felsen abgebildet. Da es keine Staffagefiguren gibt, kippt das Bild. Möglicherweise ragt hier ein Stück Ufer in ein vereistes Gewässer. Keine Vögel bieten, wie in der traditionellen Landschaftsmalerei, einen Anhaltspunkt. Oder doch?
Der Schauer der Erhabenheit wird jäh durch einen schwarzen Fleck am oberen Rand der Schneeformation unterbrochen. Es ist keine Bergdohle gelandet, vielmehr brachte sich ein Snowboarder, von der Rückseite des Berggipfels kommend, in Position. Er rast nun im Schuss den Steilhang hinunter, rund 15 Sekunden später verschwindet er am unteren Bildrand.
Das verschneite Hochgebirge war ein Übungshang der modernen Ästhetik der Zwischenkriegszeit. Von beschleunigten Körpern begeisterte Filmemacher und Fotografen erprobten am Beispiel des Skisports die visuellen Wirkungen extremer Auf- und Untersichten, von Gegenlicht und schroffen Schwarz-Weiß-Kontrasten. Auch Markus Scherer agiert an der Naht zwischen grafischer Oberfläche und Bildraum, setzt dem Rausch der Geschwindigkeit aber eine antidramatische Geste entgegen. Sein Darsteller setzt keine spektakulären Kurvenlinien in den Schnee, sondern hinterlässt einen scharfen, geraden Schnitt – als hätte ein Maler die Leinwand aufgeschlitzt.
(Matthias Dusini)
O.T.
2013
Österreich
4 min