ATELIER DE CONVERSATION
Was ein Klischee sei, wird einer gefragt. Die Antwort: „Eine Haltestelle der U-Bahn-Linie 13.“ So beginnt ATELIER DE CONVERSATION: mit einer so unbeabsichtigt wie präzisen Fehlverbindung, in der aus dem cliché die Place de Clichy wird. In diesem situativen Wortwitz ist bereits viel von dem enthalten, was diesen schönen Dokumentarfilm umtreibt. Es geht um Sprechsituationen, in denen Stereotypen mit konkreter Anschauung zusammenkommen. Das geschieht aber nicht als geordneter Realitätsabgleich, sondern in einer Kaskade kleiner Sprünge und Verschiebungen, wie sie ein Gespräch ausmachen – erst recht, wenn es in einem Kreis nur flüchtig Bekannter stattfindet, und in einer Sprache, in der diese sich nicht ganz souverän fühlen.
Das "Atelier de Conversation" ist eine wöchentliche Gesprächsrunde in einer der größten Pariser Bibliotheken. Menschen, die aus verschiedensten Gründen in Paris gelandet sind, können hier miteinander ihr Französisch trainieren. Bernhard Braunstein beobachtet diese Begegnungen in meist statischen halbnahen Einstellungen. Die Gesprächsleitung bringt die großen Themen aufs Tapet – Fremdbilder, Liebe, Heimweh, Gleichberechtigung der Geschlechter. Die daraus entstehenden Unterhaltungen bauscht Braunstein nicht zur wohligen Utopie eines Über-alles-reden-könnens auf. Eher verzeichnet er mit diskreter Genauigkeit ihre Dynamiken und Bandbreiten: Wechsel von Höflichkeit zu Empathie oder Aufgebrachtheit und wieder zurück, Momente der Verständigung wie des Unverhältnisses. Die Grundversorgungsnöte eines afghanischen Asylwerbers und die Rezessions-Bewältigungsrezepte aus der Business School bleiben hart nebeneinander stehen. Einmal gehen die Rollos gleich hinter dem Sesselkreis hoch und geben den Blick frei auf den periodisch wiederkehrenden Bibliotheksalltag. Im Kämmerchen des Ateliers wird keine Gegenwelt gebaut. Aber es findet hier doch eine Art gemeinsamer Wartungsarbeit am Sozialen statt, die in einem durchsortierten Außen wenige Orte hat. (Joachim Schätz)
„Tu n’es pas seul“ – du bist nicht allein. In der Bibliothek des Centre Pompidou, einer der größten der Stadt Paris, treffen sich wöchentlich Menschen aus allen Erdteilen, um Französisch zu sprechen, sich auszutauschen. Die Regeln sind einfach: eineinhalb Stunden Diskussion, ausschließlich auf Französisch. Die Teilnehmer/innen sind so verschieden, wie es nur sein kann – Frauen und Männer unterschiedlicher Herkunft und Sprache mit auseinandergehenden Meinungen und Einstellungen. Neben Kriegsflüchtlingen sitzen Geschäftsmänner, neben unbekümmerten Student/innen politisch Verfolgte. Und doch einen sie gewisse Dinge: Sie alle wollen Französisch lernen und sich in Paris einleben, sie wollen ankommen, sich nicht mehr fremd fühlen. Viele kämpfen mit Einsamkeit, Sprachbarrieren, Heimweh.
Im Atelier, diesem kleinen, hoffnungsvollen Raum, der wie ein leicht klaustrophobisch anmutender safe space aus Glas inmitten der riesigen Bibliothek platziert ist, wird über die ganz großen Themen geredet – Politik, Heimat, Identität, Nationalität und die Liebe: „Qu’est-ce que c’est, l’amour?“ Zur Sprache kommen Klischees bezogen auf Gender und Herkunft, die Wirtschaftskrise, den Krieg. Während die Gespräche viel über die einzelnen Teilnehmer/ innen erzählen, kochen die Emotionen hoch: Mit Momenten des Bonding zwischen den Teilnehmer/ innen, gemeinsam gespendetem Trost, Gelächter, provokanten Äußerungen und Streitereien ist die Emotionspalette so vielfältig wie die Persönlichkeiten, die hier aufeinandertreffen. Das „Atelier de Conversation“ ist ein Ort, an dem soziale und kulturelle Grenzen aufgelöst werden und Menschen, die sonst wahrscheinlich niemals miteinander in Berührung kommen würden, sich auf Augenhöhe begegnen.
Die halbnahen Einstellungen fokussieren ihre Gesichter, ihre Mimik und Gestik. Die Blicke der Zuhörenden sprechen Bände, erzählen von eigenen Erinnerungen und Gefühlen, an die die Worte der gerade Sprechenden rühren. Abgekoppelt von ihrem neuen, eigentlichen Lebensumfeld – der Stadt Paris – etabliert sich ein konzentrierter Raum des Austauschs, der den leeren Hallen des Centre Pompidou in der Abendzeit sowie dem anonymen Treiben der pulsierenden Stadt Paris gegenübergestellt wird.
Nach eineinhalb Stunden leert sich auch der kleine Glaskobel wieder. Zurück bleibt ein Sesselkreis aus roten Plastikstühlen, der auf die nächste Woche wartet, auf neue französische Vokabeln, Phrasen und Anekdoten. „Ça va aller“ – das wird schon werden.
(Diagonale 2017 Katalogtext, cw)
Atelier de conversation: At the heart of the circle of culture, by Fabien Lemercier, Cineuropa, 27.03.2017 (Kritik)
Based on a very simple film model, built on individual still shots and dipping into six sessions of these exchanges interspersed with images that gradually open up the setting from the workshop to the library surrounding it and then to a panoramic view of Paris, symbolising the way these characters who will leave their seclusion to discover the vast world around them, Atelier de conversation unfolds around the discussion topics at each session: everyone’s presentations on who they are, "the clichés and stereotypes attached to each country", "the perception of the economic crisis", the question of whether or not there are "men’s jobs and women’s jobs", "what you miss when you live in another country", "love". Each person gives their opinion, in their more or less hesitant French, and global cultural diversity becomes just as much of an opportunity for the participants to laugh together as much as fully realise just how harsh some people’s lives are. An interesting take on the French capital and France experienced from the inside by foreigners, the film above all shows how the simplest of feelings, the feeling of loneliness in a strange city, nostalgia for your country and family, and the vital need to communicate, are common to all. Something which the director shows us rather coyly, lingering on the character’s faces, without trying to stack powerful moments in on top of one another, and allowing a microcosm of equality and fraternity reflecting the microcosm of the world to take shape.
Atelier de conversation was produced by Austrian company Schaller 08 with French company Supersonicglide, in partnership with BPI and the Land Salzburg Kultur.
(Fabien Lemercier, 27.03.2017)
Jurybegründung für ARTE-Dokumentarfilmpreis, 41. Duisburger Filmwoche 2017
Bernhard Braunsteins ATELIER DE CONVERSATION ist der glückliche Fall einer Doppelung: Gefilmt wird das Sprachlabor des Centre Pompidou, in dem sich Menschen, die die französische Sprache lernen wollen, allwöchentlich treffen, um entlang einer Auswahl von vorgegebenen Themen in eben dieser Sprache zu debattieren: Wo die Diskussionen vor der Kamera konzentriert und präzise, dabei neugierig und fast immer vorsichtig von Statten gehen, ohne dabei den zentralen Fragen von Identität, der Begegnung mit dem Fremden und dem Ineinander von Wirtschaft und Politik aus dem Weg zu gehen, entwirft Braunstein eine ebenso komplexe, insistierende, neugierige, formal klare aber doch tiefgreifende filmische Form: In einem dem Diskurs verschriebenen Festival wie der Duisburger Filmwoche artikuliert ATELIER etwas Zentrales über das Kino und die Kommunikation, wird zum Scharnier zwischen dem Sehen und dem Sprechen, dem Kino und dem Grammatikoff. Wir gratulieren Bernhard Braunstein zum ARTE-Dokumentarfilmpreis 2017.
11. November 2017, die Jury: Alejandro Bachmann, Pepe Danquart, Antje Ehmann
"Ateliers de conversation": Ich bin ich, und du bist du, von Michael Pekler, Der Standard, 07.02.2018 (Artikel)
Wien – Man nehme rund ein Dutzend Menschen, setze sie auf einfache Plastikstühle kreisförmig in einen Raum und gebe ein Gesprächsthema vor: Was wie eine sozialexperimentelle Versuchsanordnung klingt, ist in Atelier de conversation, dem ersten langen Dokumentarfilm des österreichischen Regisseurs Bernhard Braunstein, eine simple wöchentliche Gesprächsrunde. Denn dieses Atelier existiert tatsächlich, es findet sich, einem Glaskobel ähnlich, mitten in der öffentlichen Bibliothek des Centre Pompidou.
"Wir sind hier, um über leichte Dinge zu reden. Wir werden hier keine geopolitische Debatte anfangen." Der Moderator erinnert die Teilnehmer aus aller Welt, die sich hier zwecks Spracherwerb und Sozialkontakt einfinden, des Öfteren daran, nicht über Politik oder Religion, dafür ausschließlich Französisch zu sprechen. Hier stehen andere Dinge im Vordergrund, und zwar nicht die konfrontative Diskussion, sondern das Sprechen als solches. Kein Terrain also für den Ägypter, den die Verfolgung der koptischen Christen in seiner Heimat wütend macht, und auch kein Platz für die Frage, welche Rolle Mohammed Mursi im Syrien-Krieg spielt.
Position des stillen Beobachters
Von Braunstein ohne genaues Aufzeichnungsdatum versehen, aber offensichtlich 2014 entstanden, kann man Atelier de conversation als knapp 70-minütige Momentaufnahme von Menschen bezeichnen, die sich aus unterschiedlichen Gründen in einer ihnen nicht vertrauten Sprache gegenüber Fremden ausdrücken möchten. Gesprochen wird über Klischees, Essen, Freundschaft und selbstverständlich die wahre Liebe. Die bildungspolitische Intention dieser Einrichtung ist offensichtlich.
Braunstein, selbst ehemaliger Teilnehmer der Runde, verlässt sich dabei ganz auf die Position des stillen Beobachters: In ausschließlich halbnahen Einstellungen filmt die mitten im Kreis platzierte Kamera die Sprechenden, fängt nur selten Reaktionen der anderen Teilnehmer ein. Hinter dieser formalen Strenge – erst nach einer halben Stunde verlässt der Film für kurze Zeit das Atelier – bleiben die individuellen Lebensgeschichten, von jener der amerikanischen Studentin bis hin zu jener des afghanischen Flüchtlings, im Verborgenen.
Ausgerechnet die Aufhebung der Unterschiede, die das Gesprächslabor vorgibt und Atelier de conversation verlängert, gerät somit zum Paradoxon.
(Michael Pekler, Der Standard, 07.02.2018)
Reden und reden lassen, von Susanne Veil, Wiener Zeitung, 06.02.2018 (Interview)
Er selbst sei 2009 nach Paris gezogen, ohne die Sprache zu sprechen, und habe das Atelier durch Zufall entdeckt, so Braunstein. "Ich bin als normaler Teilnehmer ein, zwei Jahre hingegangen und war fasziniert von dem Ort. Dort konnte ich zum ersten Mal sprechen, ohne Hemmungen zu haben, weil ich unter Gleichgesinnten war."
Trotz oder gerade wegen der sprachlichen Einschränkungen kommen die Diskussionen ohne Umschweife zum Kern gesellschaftspolitischer Fragestellungen. "Das ist ein ganz entscheidender Aspekt", sagt Braunstein, "weil man limitiert ist und genau überlegt, was man sagt und wie man es tut. Gleichzeitig bedingt es ein sehr tolerantes und aufmerksames Gegenüber."
Wie ein Porträt des Landes
Für ein gelungenes Gespräch sei das Sprechen weniger entscheidend als das Zuhören. Denn Letzteres sei ein aktiver Akt: "Der springende Punkt ist die Bereitschaft, jemanden wirklich verstehen zu wollen. Das hat auch mit Zeit und Geduld zu tun." Deshalb zeigt Braunsteins Film häufig nicht die redende Person, sondern die Hörenden. Die Kamera stand in der Mitte des Sesselkreises. Braunstein: "Ich wollte schöne Porträts der Menschen machen, alle wurden mit dem gleichen Ausschnitt gefilmt. Das folgt der Idee des Ateliers, dass alle gleich angeschaut werden und es keine Wertungen gibt." Außerdem würden durch diesen Blickwinkel die Zuschauer "direkt angesprochen und Teil des Geschehens".
In Frankreich wurde der Film auf Festivals als ein Gegenwartsporträt des Landes aufgenommen. Wohl nicht zu Unrecht: Es halte den Franzosen einen Spiegel vor, findet Braunstein, wenn Menschen aus der ganzen Welt auf Französisch über ihre Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen sprechen.
Entscheidend sei auch die Rolle des Moderators: "In Momenten, in denen die Meinungen stark aufeinanderprallen und Konflikte entstehen, kann der Moderator oder die Moderatorin die Leute schützen, damit niemand verletzt wird." Für Braunstein ist dies einer der Gründe, warum die Menschen in das Atelier kommen, "weil es eine kleine Insel ist, ein Ort, an dem man sicher ist. Die Stadt kann sehr brutal sein. Von Paris hat man die Vorstellung, dass es die Stadt der Liebe und des Lichts ist, es ist aber auch die Stadt der Gewalt, der Armut und des Stresses."
"Falsches Bild von Integration"
Erfunden wurde das Atelier de conversation 2012 von einer Bibliothekarin, um Menschen zu helfen, Französisch zu lernen. Nun zeigt es gelebte Integration: "Ich glaube, dass wir manchmal ein falsches Bild davon haben, was Integration ist. Wir denken, es wäre problematisch, wenn Leute, die aus verschiedenen Ländern kommen, unter sich bleiben. Das ist aber vor allem am Anfang überlebenswichtig. Weil es die einzige Möglichkeit ist, in irgendeiner Form zu kommunizieren, Fuß zu fassen und auf ein Netzwerk zurückzugreifen. Sonst bist du verloren, wenn du die Sprache nicht kannst. Von den Menschen zu erwarten, dass sie vollkommen autonom in einem fremden Land funktionieren und sich sofort integrieren können, ist eine Illusion."
Braunstein will mit seinem Film Verständnis dafür wecken: "Ich glaube, es wird heute grundsätzlich immer wichtiger, dass wir über den Tellerrand hinausschauen. Ich bin vollkommen gegen diese Tendenzen, die ich immer stärker spüre, dass die Leute wieder in Nationalismen zurückrutschen und in die Lederhosen hüpfen. In Wahrheit verlangt die Realität das Gegenteil: sich öffnen, neugierig werden und Sprachen lernen."
Kaj je prinesel 20. FDF? (Judita Trajber) - slovenian (Artikel)
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Skoraj olajšanje od zgodovinolova
Olajšanje od zgodovinolova sta ponudila dokumentarca o dogajanju v knjižnicah svetovnih metropol, New Yorka in Pariza. Ah, da bi jima bili v naši Ljubljani, najlepšem mestu na svetu, še bolj podobni! V pariški knjižnici posnet dokumentarec Debatni krožek (Atelier de Conversation, Bernhard Braunstein, 2017) spremlja iskrena pogovorna srečanja novih ali začasnih Parižanov in Parižank z vseh kontinentov in vseh mogočih barv in kultur; pretežno so izobraženci vseh starosti, nemalokrat azilanti, ki s poslušanjem in pogovorom izboljšujejo svoje znanje jezika gostiteljske države ter s pristnim nasmehom odstranjujejo kljukice predsodkov, odkljukane o duhovnem, miselnem in kulturnem horizontu z drugega konca sveta pribeglega soudeleženca krožka. V krogu sedita Turka, ki sta se seznanila šele tukaj; prvi je mlajši podiplomec, politični zapornik na prostosti po prestani kazni, drugi pa turški sodnik v pokoju. Geopolitične razprave so sproščeno na dnevnem redu, urijo se v kultiviranju razpravljanja, saj jim je dovoljeno izražati se le umirjeno, ne preglasno, vljudno in spoštljivo. Kljub temu se zgodi, da govorcu zakipi zvarek iz bolečine, srda, ogorčenja, besa, obupa, svete jeze, ker ves svet molči, ko pobijajo krščanske otroke. Zakaj jih pobijajo? Tega film ne pove, zato sem odgovor iskala in ga našla – v ljubljanski knjižnici. Tam na polici je Bogu kot navdihovalcu pripisano čtivo, Koran, polno spodbujanja k ubijanju nevernikov (nevernik je, kdor ne verjame v Koran).
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http://za-misli.si/kolumne/ostali-avtorji/3631-kaj-je-prinesel-20-fdf-judita-trajber
ATELIER DE CONVERSATION
2017
Österreich, Frankreich, Liechtenstein
72 min
Dokumentarfilm
Französisch
Englisch, Deutsch