Gli appunti di Anna Azzori / Uno specchio che viaggia nel tempo
Von 1972 bis 1975 beobachtete ANNA, ein Film der italienischen Underground Regisseure Alberto Grifi und Massimo Sarchielli, eine drogenabhängige Ausreißerin. Ruhms Essay bezieht sich darauf und fragt nach dem Platz von Frauen in einer Welt, die in den 70er Jahren voller Diskriminierungen steckte und es heute noch tut.
Mit dieser italienischen Zeitreise setzt Constanze Ruhm ihre Variationen über weibliche Figuren des modernen Kinos fort. In einer essayistischen Doppelbewegung forscht die Künstlerin nach der Geschichte der Dreharbeiten eines Films und nutzt das gefundene Material für die imaginäre Umschrift einer Rolle. Nach Godards Nana S. fällt die Wahl nun auf Anna, römisches Cinéma Vérité aus der Hand von Alberto Grifi und Massimo Sarchielli, das im kritischen Gestus der siebziger Jahre den Blick zur politischen Frage machte. Ausgehend von Archivbildern und -tönen wechselt Gli appunti di Anna Azzori nun die Perspektive, aus der sich der Wahrheitsgehalt der dokumentarischen Inszenierung vermessen lässt. Ovids Metamorphosen dienen dabei als Rahmen, das poetische Verwandlungspotential von Figuren, Objekten und Orten des Films auszuloten.
Anna entstand auf Video, aus der Begegnung mit einer minderjährigen, drogenabhängigen Schwangeren, die auf der Piazza Navona gestrandet war. Die teilnehmenden Beobachter bemühen sich, das vorgefundene Milieu reflexiv miteinzubeziehen, doch nicht alle Widersprüche lassen sich aufheben. Stilisiert Grifis Montage einen Beleuchter, der ungeplant vor die Kamera tritt, zum handelnden Subjekt, so unterstreichen Ruhms Entnahmen aus Schnittresten Annas Widerstand. Die elektronische Störung figuriert dabei als Verweis auf den medialen Transfer und als Markierung von Fehlstellen. Gli appunti di Anna Azzori ist eine Entführung schwarzweißer, schattenhafter Gestalten ins Heute. Im Zeitalter des Computerspiels stellt ein Reigen von Annas Wiedergängerinnen die damaligen Blickanordnungen erneut auf die Probe. Die zum farbenfrohen Casting angetretenen jungen Schauspielerinnen bilden einen postfeministischen Echoraum, in dem die Parolen der zweiten Frauenbewegung nachklingen: "... non abbiamo paura".
(Christa Blümlinger)
Gli appunti di Anna Azzori, Berlinale 2020
Constanze Ruhms Filmessay umkreist einen anderen Film: Anna von Alberto Grifi und Massimo Sarchielli (Berlinale Forum 1975). Die beiden italienischen Regisseure begegneten Anfang der 70er Jahre auf der Piazza Navona in Rom Anna Azzori, einer Drifterin, die Geld und Hilfe brauchte. Sie dokumentierten ihr aus den Fugen geratenes Leben. Die Kontrolle über den Prozess blieb bei ihnen. Gli appunti di Anna Azzori gewinnt daraus viele Konstellationen, die mal mehr, mal weniger miteinander zu tun haben: „Alles ist weit entfernt und sehr nah zugleich“, heißt es einmal. Das Leitmotiv bildet die Frage nach dem Platz und den Kämpfen von Frauen in einer Welt, die damals voller Diskriminierungen steckte und es heute noch tut. Es gibt Störgeräusche, elaborierte Voiceover und verschneite Bilder, Figuren, die sich in Bäume, Steine oder Gestirne verwandeln (und von dort wieder zurück in Menschengestalt), Flussnymphen und junge Frauen, die zu einem Casting kommen, außerdem viele Archivbilder, zum Beispiel von feministischen Demos in Italien: „Wir haben keine Angst“, skandierten die Demonstrantinnen seinerzeit. (Christina Nord, Berlinale Forum)
Constanze Ruhm’s essay film revolves around another film: Anna by Alberto Grifi and Massimo Sarchielli (Berlinale Forum 1975). In the early 1970s, the two Italian directors found Anna Azzori, a drifter who needed money and help, on the Piazza Navona in Rome. As they documented her unravelling life, control over the process remained firmly in their hands. Starting with this material, Gli appunti di Anna Azzori constructs several clusters of ideas that are sometimes more, and sometimes less related to one another: “Everything is at once far away and very close,” we hear at one point. The leitmotif raises the question of the place of women and their struggles in a world that was full of discrimination at the time – and which still is today. The film uses interference noise, elaborate voiceovers, snowy images, characters who turn into trees, rocks or stars (and back again), river nymphs and young women at a casting call. It also features lots of archival material, including images from feminist demonstrations in Italy: “We are not afraid,” the demonstrators chanted at the time. (Christina Nord, Berlinale Forum)
Gli appunti di Anna Azzori / Uno specchio che viaggia nel tempo
2020
Österreich, Deutschland, Frankreich
72 min
Essay, Fiktion
Italienisch, Deutsch
Englisch