under the microscope
Unter den Argumenten, die für das Kino als eine Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis vorgebracht werden, war das augenfälligste von Anfang an dieses: Film kann Bewegung nicht nur aufzeichnen, sondern macht sie vielfach überhaupt erst wahrnehmbar. Vergrößerung enthüllt Zellprozesse, Zeitraffer und Zeitlupe richten Blütensprießen und Pollenexplosion am Maß menschlicher Wahrnehmung aus. In under the microscope haben diese und andere berühmte Motive aus der Geschichte des Wissenschaftsfilms ihren Auftritt. Genauso oft ist aber kaum zu bestimmen, was da im Bild am Pulsen, Bersten oder Wuchern ist. Michaela Grill breitet in ihrer furiosen Remontage von Wissenschaftsfilmen aus den 1920er Jahren nicht Motivkataloge aus, sondern zielt geradewegs auf das Faszinosum dieser Aufnahmen: Ihr Wert als Bildungsgut war nie sauber zu lösen von ihrem ästhetischen Reiz als pures Kinospektakel. Diskrete Formen beginnen zu wimmeln, scheinbar Unbewegtes bricht in Choreografien aus. Vorgefundene Natur und technische Bildprozesse tanzen eng umschlungen. Grill legt diese Bildereignisse frei und beforscht ihre filmischen Valeurs: durch wechselnde Einfärbungen frei nach historischer Virage, durch Überblendung und bis zum Flickerstakkato gesteigerten Schnitt, durch rhythmische Bearbeitungen von Bildausschnitt und Bewegungstempi. In diesem Sinn lässt auch Sophie Trudeaus Tonspur das Gleichmaß von Uhrenticken in treibende Maschinenmusik übergehen. Wie sein Ausgangsmaterial läuft der Film nicht auf ornamentale Abstraktion hinaus, sondern lässt abwechselnd Gegenständliches fremd werden – und unleserliche Formen vertraut. Fotografische Referenz ist hier nicht Bestätigung von schon Gewusstem, sondern Ausgangspunkt für Erkundungen. Unter dem Mikroskop fangen die Rätsel filmischer Wahrnehmung erst an. (Joachim Schätz)
under the microscope
2021
Österreich, Kanada
7 min