Wo ich wohne
In Wo ich wohne zeichnet Susi Jirkuff den plötzlichen Abstieg einer Person nicht nur erzählerisch, sondern, Bild für Bild, auch visuell nach. „Ich wohne seit gestern einen Stock tiefer“, sagt da die Protagonistin gleich zu Beginn. Doch keiner der Menschen in ihrer Umgebung reagiert auf diesen doch außergewöhnlichen Umstand.
In der auf einer Erzählung Ilse Aichingers (1921–2016) beruhenden Animation Jirkuffs entwickeln die Elemente des Hauses ein Eigenleben. Neben dem Handlauf und der Tapete bleibt auch die weiße Zeichenfläche nicht unberührt: Jirkuffs Kohlestriche und der Kohlenstaub aus Aichingers Text färben diese grau (denn im Keller, wo die erzählende Stimme schließlich landet, wird Kohle gelagert). Wie schon in Vermessung der Distanz (2019) interessiert sich Susi Jirkuff hier nicht nur für die Räumlichkeit des Hauses, sondern auch für das (Nicht-)Verhalten der Mitmenschen. Niemand fragt: „Wohnten Sie nicht gestern noch neben uns?“
Die Erzählung erschien 1955 im Linzer Jahrbuch Stillere Heimat. Aichinger überlebte die Zeit des nationalsozialistischen Terrors in einer Wohnung in Nachbarschaft zum Wiener Gestapo-Hauptquartier. Das ersehnte Kriegsende verhieß keine Befreiung: In den Ämtern saßen dieselben Personen, ihre Sprache und ihr Verhalten hatte sich nicht verändert. Am Wohnungsamt wurde der stark dezimierten Familie – nahe Familienmitglieder wurden umgebracht, Schwester und Tante konnten nach England fliehen – gesagt: „Schlafen S’ in der Hängematt’n.“ Wen interessierte das damals. Und wer fragt heute nach der Wohnsituation bedrohter Menschen. (Andreas Dittrich)
Wo ich wohne
2022
Österreich
11 min
Animation
Deutsch
Englisch, Englische Sprachversion