Die ArbeiterInnen verlassen die Fabrik
Katharina Gruzei vereint eine gesellschaftspolitische Fragestellung mit einem präzisen formalen Konzept, was selten im experimentellen Film zu finden ist. Ausgehend vom ersten Film der Brüder Lumière La sortie de l’usine Lumière à Lyon, der eine große Zahl von Arbeiterinnen und Arbeiter beim Heraustreten aus dem Fabrikstor dokumentiert, beginnt Gruzei bereits im Inneren, in einem aufgrund des Schnitts elendslang wirkenden Gang, der sich aus der Dunkelheit herausschält. Die Architektur des Korridors – eine Fertigungszeile der geschlossenen Austria Tabak Werke – blitzt jeweils nur in Teilstücken im surrenden Neonlicht auf. Die eindrückliche Lichtchoreographie und der Sound stammen von einer Installation der Künstlerin in den leeren Räumen.
Langsam kommen die Rücken der ersten ArbeiterInnen mit Mantel und Handtaschen gekleidet ins Bild, die Kamera begleitet sie beim Verlassen der Arbeitsstätte. Es werden immer mehr, die den dunklen flackernden Gang entlanggehen. Spätestens in diesen Szenen wird die Unheimlichkeit des Raumes und die Bedrohlichkeit einer Masse, die sich zum Widerstand formieren könnte, spürbar. Sämtliche Fragen nach den Hintergründen der Berufsrealität dieser in der Hauptsache weiblichen ArbeiterInnen lassen sich assoziieren: Ist es bereits Nacht, wenn sie die Fabrik verlassen? Welche Art der Arbeit müssen sie ausführen? Was verdienen ArbeiterInnen heute? Wie lange ist der Heimweg von diesem Monstrum an Produktionsstätte und wann wird diese wohl in ein Billiglohnland verlegt?
Wenn alle ProtagonistInnen sich kurz wie für ein Foto formieren und frontal in die Kamera blicken, fragt man sich, wie ein Kampf um menschengerechte Arbeit heute aussehen müsste, damit er erfolgreich ist. Das automatische Eingangsgitter öffnet und schließt sich lautlos, um die anonyme Menge zu entlassen.
(Brigitta Burger-Utzer)
1895 waren es in der deutschen Übersetzung des Filmtitels der Lumières noch Arbeiter, die die Fabrik verließen, obgleich deutlich mehr Frauen zu erkennen waren. Katharina Gruzei verunmöglicht in ihrer Neu-Interpretation die Geschlechterzuschreibungen in Titel und Bild. Im Flackern ihrer Lichtinstallation filmt die Kamera Silhouetten und schwimmt mit der Masse hinaus aus den Tabak Werken. Erst am Ende wird die Originaleinstellung nachempfunden, diesmal mit geschärfter Wahrnehmung.
(Diagonale Katalog, 2012)
Die flackernde Beleuchtung des Ganges erschwert die Zuordnung der Silhouetten in die Kategorien "Mann" und "Frau". Die Betrachter/innen werden in einer Gegenüberstellung mit der Frage konfrontiert, wo das Proletariat heute zu verorten ist, bzw. ob es in seiner klassischen Form noch existiert.
(Katharina Gruzei)
Die ArbeiterInnen verlassen die Fabrik
2012
Österreich
11 min