Ur-Geräusch
Den wahrscheinlich poetischsten Einfall für eine Phonographenanwendung zeichnet Rainer Maria Rilke "am Tage Mariae Himmelfahrt 1919" in Soglio auf. Die Idee, die Nadel des Phonographen über eine Spur zu lenken, "die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammte, sondern ein an sich und natürlich Bestehendes (…) wäre" - wobei Rilke vor allem an die Kronen-Naht des Schädels denkt. In die Tat umgesetzt entstünde, was im selben Text als "Ur-Geräusch" bezeichnet wird: ein Ton, eine Ton-Folge, eine Musik als Resultat der Dekodierung einer Spur, die niemals kodiert wurde. Bereits Friedrich Kittler hat an Rilkes Text den hohen Grad an medialer Reflexion hervorgehoben, geht es in diesem doch um nichts weniger als um eine Erweiterung der Gebiete des sinnlich Wahrnehmbaren, zu der ausdrücklich weder die Dichtung noch die Wissenschaft in der Lage sind. Ist es das (digitale) Video?
Katarina Matiasek scheint davon auszugehen: Freilich unter der Bedingung, dass sie Rilkes Einfall nicht einfach realisiert, sondern als Mittel- und Ausgangspunkt einer Reflexionsbewegung annimmt, die geeignet ist, die vom Video selbst etablierte Ordnung der Sinnlichkeit jenen Abgründen auszusetzen, die Rilke zufolge zwischen den Sinnen bestehen. Das beginnt mit dem Geräusch, welches das Einlegen einer Tonbandkassette in ein Abspielgerät macht (dieses wäre, sofern die Kassette jene Stimme speichert, die Rilkes in Büchern aufgezeichnete Worte zu Gehör bringt, gewissermaßen das Ur-Geräusch des Videos) und endet beim Unentscheidbaren der Frage, wie man die Bergkämme, Buchrücken und Schädelnähte, die das Video zeigt, denn nun auffassen soll: Als Resultat einer Kodierung, als Resultat einer Dekodierung oder als beides zugleich?
(Vrääth Öhner)
Transkription der Erzählstimme (dt) /adaptiert nach dem Originaltext von Rainer Maria Rilke
Und nun weiß ich nicht: ist es eine rhythmische Eigenheit meiner Einbildung, dass mir seither, oft in weiten Abständen von Jahren, immer wieder der Antrieb aufsteigt, aus dieser damals unvermittelt wahrgenommenen Ähnlichkeit den Absprung zu nehmen zu einer ganzen Reihe von unerhörten Versuchen? Ich gestehe sofort, dass ich die Lust dazu, sooft sie sich meldete, nie anders, als mit dem strengsten Misstraun behandelt habe, - bedarf es eines Beweises dafür, so liege er in dem Umstande, dass ich mich erst jetzt, wiederum mehr als anderthalb Jahrzehnte später, zu einer vorsichtigen Mitteilung entschließe. Auch habe ich zugunsten meines Einfalls mehr nicht anzuführen, als seine eigensinnige Wiederkehr, durch die er mich, ohne Zusammenhang mit meinen übrigen Beschäftigungen, bald hier, bald dort, in den unterschiedlichsten Verhältnissen überrascht hat.
Was wird mir nun immer wieder innerlich vorgeschlagen? Es ist dieses: Die Nähte des Schädels (was nun zunächst zu untersuchen wäre) haben - nehmen wirs an - eine gewisse Ähnlichkeit mit der dicht gewundenen Linie, die der Stift eines Phonographen in den empfangenden rotierenden Cylinder des Apparates eingräbt. Wie nun, wenn man diesen Stift täuschte und ihn, wo er zurückzuleiten hat, über eine Spur lenkte, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tons stammte, sondern ein an sich und natürlich Bestehendes -, gut: sprechen wirs nur aus: eben (z.B.) die Schädel-Naht wäre -: Was würde geschehen? Ein Ton müsste entstehen, eine Ton-Folge, eine Musik...
Gefühle -, welche? Ungläubigkeit, Scheu, Furcht, Ehrfurcht -: ja, welches nur von allen hier möglichen Gefühlen? verhindert mich, einen Namen vorzuschlagen für das Ur-Geräusch, welches da zur Welt kommen sollte. Dieses für einen Augenblick hingestellt: was für, irgendwovorkommende Linien möchte man da nicht unterschieben und auf die Probe stellen? Welche Kontur nicht gewissermaßen auf diese Weise zu Ende ziehen, um sie dann, verwandelt, in einem anderen Sinn-Bereich herandringen zu fühlen?
Nun ist die Lage des Liebenden die, dass er sich unversehens in die Mitte des Kreises gestellt fühlt, dorthin also, wo das Bekannte und das Unfassliche in einem einzigen Punkte zusammendringt, vollzählig wird und Besitz schlechthin, allerdings unter Aufhebung aller Einzelheit. Dem Dichter wäre mit dieser Versetzung nicht gedient, ihm muss das vielfältig Einzelne gegenwärtig bleiben, er ist angehalten, die Sinnes-Ausschnitte ihrer Breite nach zu gebrauchen, und so muss er auch wünschen, jeden einzelnen so weit als möglich auszudehnen, damit einmal seiner geschürzten Entzückung der Sprung durch die fünf Gärten in einem Atem gelänge.
Beruht die Gefahr des Liebenden in der Unausgedehntheit seines Standpunkts, so ist es jene des Dichters, der Abgründe gewahr zu werden, die die eine Ordnung der Sinnlichkeit von der anderen scheiden: in der Tat, sie sind weit und saugend genug, um den größeren Teil der Welt - und wer weiß, wieviel Welten an uns vorbei hinwegreißen.
Sieht man sich aber nun nach einem Mittel um, unter so seltsam abgetrennten Bereichen die schließlich dringende Verbindung herzustellen, welches könnte versprechender sein als jener Versuch? Wenn er hier am Schlusse, mit der schon versicherten Zurückhaltung, nochmals vorgeschlagen wird, so möge man es mir in einem gewissen Grade anrechnen, dass ich der Verführung widerstehen konnte, die damit gebotenen Voraussetzungen in den freien Bewegungen der Phantasie willkürlich auszuführen. Dafür schien mir der, während so vielen Jahren übergangene und immer wieder hervortretende Auftrag so begrenzt und zu ausdrücklich zu sein.
Soglio, am Tage Mariae Himmelfahrt 1919
Transcript of the narrators voice (eng.) / adapted from the original text by Rainer Maria Rilke
And now I do not know: is it due to a rhythmic peculiarity of my imagination, that ever since, often after a lapse of years, I repeatedly feel the impulse to make that spontaneously perceived similarity the starting point for a whole series of unheard of experiments? I frankly confess that I have always treated this desire with the most unrelenting mistrust whenever it made itself felt. If proof be needed, let it be found in the fact that it is only now, after more than a decade and a half, that I have resolved to make a cautious statement concerning it. Furthermore, there is nothing I can cite in favour of my idea beyond its obstinate recurrence, a recurrence which has taken me by surprise in all sorts of places, irrespective of the circumstances in which I found myself.
What is it that repeatedly presents itself to my mind? It is this: the sutures of the skull (this would first have to be investigated) have, let us assume, a certain similarity to the closely meandering line which the needle of a phonograph engraves on the receiving, rotating cylinder of the apparatus. Now what if one misled the needle, redirecting its rendition along a trace which was not derived from the graphic translation of sound, but existed of itself, naturally. Well, to put it plainly, along the cranial suture, for example. What would happen? A sound would arise, a series of sounds, music...
Feelings - which? Incredulity, timidity, fear, awe - which of all possible feelings here prevents me from suggesting a name for the Primal Sound which would then come into existence... Leaving that aside for now: which lines then, occurring anywhere, would one not wish to put under the needle, and to the test? Which contour could not, in a sense, be drawn to a close in this way and then reexperienced, thus transformed, within another realm?
Now the position of the lover is such that he feels himself unexpectedly placed in the centre of the circle, that is to say, where the known and the incomprehensible converge to a single point, becoming complete and his own indeed, though losing, it is true, all particulars. This dislocation would not suit the poet, for he must envision individual character, he is compelled to use the separate senses to their full extent. It must also be his aim to expand each of them as far as possible, so that his lively delight, girt for the attempt, may pass through the five gardens in one leap.
While the lovers danger consists in the non-extensive character of his standpoint, for the poet it lies in his awareness of the abyss which divides one formation of the senses from the other: in truth it is sufficiently wide and engulfing to sweep away the greater part of the world before us and who knows how many worlds?
But if we are looking for a means to establish the urgent connection between the different provinces that are now so strangely separated from one another, what could be more promising than this experiment? When here, at the end, it is once again proposed with all the assured reservations I would like to think I might be credited, to a certain degree, with resisting the temptation to arbitrarily carry out the offered prerequisites by giving completely free reign to fantasy. It appeared to me that the task, ignored for so many years and yet insistently recurring, was so limited and too explicit.
Soglio, on Assumption Day 1919
Freud'sche DJs an der Schädelnaht von Harald Fricke, taz, Berlin 10.07.06 (Kritik)
Das Babylon Mitte zeigt im Rahmen von "Sonambiente 06" experimentelle Filme über Klangkunst zwischen Stockhausen und japanischem Noise. Mal knarzen Küstenstreifen elektronisch, mal kann Industrial Leben retten.
Im Schlund der Sängerin flimmert es heftig. Elektronenteilchen scheinen sich zu beschleunigen, während die Stimme in immer höhere Tonbereiche vordringt. Kurz vor dem Umschlagen in ekstatisches Kreischen zieht sich die Kamera zurück aus dem Rachen: Der Resonanzraum gehört Maria Callas. Für ihren 2004 entstandenen Kurzfilm "Diva" nutzt Katarina Matiasek das Found-Footage-Material eines Fernsehauftritts, dessen Tonspur von Scanner nachträglich mit dem Hallgerät verfremdet wurde. Jetzt kommt die Montage einer Entladung gleich - als wäre der Klang vor dem Zoom ein Gefangener im Körper der Callas gewesen.
Matiasek und Scanner sind ein eingespieltes Team, wenn es um visuelle Experimente mit Klangkunst geht. Deshalb werden gleich vier von ihren Gemeinschaftsarbeiten innerhalb einer Filmreihe im Babylon Mitte gezeigt, die bis zum nächsten Wochenende das Sonambiente 06- Festival begleitet. Für "Insel Playback" (2005) hat das österreichisch-britische Duo den Küstenstreifen einer Inselgruppe vom Hubschrauber aus gefilmt und mit elektronischem Knarzen unterlegt, als ob sich die Sounds aus der Landschaft herausschälen würden. In "Ur-Geräusch" aus dem Jahr 2006 wird die Engführung noch weiter vorangetrieben: Dort fährt die Kamera unentwegt über Bücherrücken, während im Off eine Klangforschungsfantasie von Rilke nacherzählt wird, der als Freud'scher DJ die Schädelnaht eines Totenkopfes mit einer Grammofonnadel abtasten wollte wie eine Schallplatte.
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HARALD FRICKE
taz Berlin lokal vom 10.07.2006, S. 19
Ur-Geräusch
2007
Österreich
14 min