Was die Nacht spricht - eine Erzählung
Der Titel des Films verspricht eine Erzählung. Nicht weniger als um das Erzählte geht es dabei um den Prozeß des Erzählens. Dieser ergibt sich aus dem Zusammenwirken mehrerer Erzählebenen. Ein bekanntes Experiment aus der Filmgeschichte soll die Methode verdeutlichen. Lev Kuleschow montierte eine Aufnahme eines nachdenklich vor sich hinblickenden Schauspielers zuammen mit Aufnahmen einer halbnackten Frau, eines Kindersarges und anderen Aufnahmen, sodaß sich aus jeder dieser Kombinationen ein anderer Eindruck von dem Mann ergab.
Was bei Kuleschow ein primär psychologisches Experiment war, enthält auch wesentlich die von mir gemeinte Form filmischen Erzählens. Es werden dabei nicht einzelne Bilder zueinander montiert, sondern mehrere Handlungsstränge, die nichts miteinander zu tun haben, ineinander verwoben und so zueinander in Beziehung gesetzt. Es ergibt sich aus dem Geflecht eine neue Erzählebene, die erst duch die Montage entsteht, letztlich aber erst im Kopf des Zuschauers ihre variable Form annimmt. Soweit die experimentelle Absicht.
Zwei Frauen, die miteinander in einer Kunstsprache sprechen, Arbeiter im Wirtshaus, die im Dialekt reden, Patienten des Psychiatrischen Krankenhauses, die improvisierend sich selbst zur Sprache bringen, - alle diese divergierenden Darstellungen kommunizieren, nicht indem sie handelnd ineinandergreifen, sondern indem sie sich berühren. Kommunikation als Nähe. Die Disparität herrscht nicht nur als formales Prinzip zwischen den Szenen, sondern auch inhaltlich innerhalb der Szenen als Vereinzelung und Zerfallenheit, als Traum und Sehnsucht. Wenn in dem Chaos auch nur kurz eine freie Ordnung, eine unvorhersehbare Harmonie aufleuchtet, entsteht in der Kunst Poesie, sichert das den Einzelnen (und wem nicht?) die Augenblicke des Überlebens.
Alle Handlungsstränge münden in der Nacht, wobei Nacht weniger eine Sache der Tageszeit als eine des geistigen Zustandes ist. Ebenso wie die Nacht alles isoliert und in seiner Vereinzelung verschärft hervorhebt, deckt sie auch alles gleichermaßen zu, verbindet sie. Die Umnachtung zeigt, was sie verbirgt. (H. S.)
Was die Nacht spricht (Kritik)
"Was die Nacht spricht" lädt den/die Betrachter/in dazu ein, drei nächtliche Handlungsstränge, die miteinander nichts zu tun haben, selbst zusammenzuführen:
1) Zwei Frauen versuchen, ihre schwierige Beziehung zueinander zu analysieren. Kunstsprache. Text: Elfriede Jelinek, die auch eine der beiden Rollen übernahm. Zwischen den Protagonistinnen eine zweite vertikale Bildebene, die das Zimmer teilt. Stadt bei Nacht/U-Bahn-Passage/Kornfeld
2) Wirtshausrunde. Ein alter Mann erzählt von einer Winzerfamilie in Nussdorf. Arbeiter hören gelegentlich hin, sprechen durcheinander, trinken.
3) Psychiatrisches Krankenhaus Baumgartner Höhe. Patienten agieren in zum Teil selbst verfassten Monologen und Spielszenen. Als Vorbereitung diente ein sechswöchiger Workshop mit Nika Brettschneider, in dem die Teilnehmer ihre kreativen Fähigkeiten ohne Beobachter erprobten.
Hans Scheugl nimmt die Patienten ernst, missbraucht sie keine Sekunde lang als Freaks. Sie gehen spielerisch miteinander um, entwickeln manchmal sogar ironische Distanz.
Das Spannende in "Was die Nacht spricht" steckt weniger zwischen den Handlungssträngen als zwischen den Worten der Patienten. Womit sich der Kreis schließt: das Paradoxe wird selbstverständlich, das Wirre klar, was im Dunkeln war, rückt ans Licht. Zwei-, dreimal schneidet Scheugl auf fremdartig beleuchtete Menschenfiguren im Garten so künstlich und doch so real wie die nächtlichen Angreifer in George Romeros "Night of the Living Dead".
Christian Cargnelli, Falter 40/1987, Wien
Was die Nacht spricht - eine Erzählung
1986 - 2024
Österreich
60 min