Hito Steyerl
Hito Steyerl vorzustellen ist eigentlich unnötig. Die in München geborene Künstlerin, Filmemacherin, Theoretikerin und Professorin war in den letzten Jahren mit ihren Arbeiten bei so gut wie allen Großereignissen des Kunstbetriebes (documenta, Biennale Venedig, Skulptur Projekte Münster, etc. ) präsent und zählt zu den einflussreichsten Künstler:innen der Gegenwart. Diese Retrospektive, die alle filmischen Single-Channel-Arbeiten umfasst, die die studierte Filmemacherin (Academy of Visual Arts Tokio und HFF München) für eine Kinopräsentation freigibt, ist allerdings die Erste im Filmkontext, also nützen Sie die Chance, im Display Kino in den vielgestaltigen Denkapparat Steyerls einzutauchen. Herausragend an ihrem Werk ist eine konzeptuelle Offenheit, gepaart mit der unbändigen Freiheit auf den ersten Blick unterschiedliche Kontexte, Bildtypen und Erzählungen miteinander zu verweben.
Das Dokumentarische steht in Steyerls Arbeit stets zur Disposition, Florian Ebner bezeichnet es gar als Werk „über das Dokumentarische“, in welchem ein Perspektivenwechsel programmatisch ist. Die Montage und Collage dienen als zentrale Werkzeuge, mit welchen neue Zusammenhänge gebaut und die Politiken des Raums inklusive den darin manifestierenden Machtverhältnissen untersucht werden. Dabei setzt Steyerl biografische Eckdaten bzw. ihre eigene Person immer in Beziehung zu dem Gezeigten. Zeug:innenschaft, die Verquickung von Krieg, Ökonomie und Kunst, Rassismen und rechtsradikale Gewalt, die Befragung und Dekonstruktion der eigenen filmischen Mittel und die Neugierde an neuen digitalen Technologien sind Teile dieses Denkapparats. (Dietmar Schwärzler)
PROGRAMM 1, 06.12.2023, 18:00 Uhr – Q & A mit Hito Steyerl + Dietmar Schwärzler
Babenhausen, 1997, Farbe, 4 min
Regie: Hito Steyerl, Text: Cafe Morgenland, Bild: discinema
Die leere Mitte, 1998, Farbe, 62 min
Regie/Buch/Schnitt: Hito Steyerl, Aufnahme: Meike Birck, Hito Steyerl, Boris Schafgans, Texte von: Siegfried Kracauer, Friedrich Hollaender, Protagonist:innen: Dong Yang, Huan Zhu, Besetzer:innen des Potsdamer Platzes, Gewerkschaftsarbeiter, u.v.a., Produziert von: Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF)
Zwei Zeitstücke, die Protestformen an historisch neuralgischen Orten aufzeichnen, kommentieren und vielfältige Beziehungsgeflechte herstellen. „Deutschland, das Land der unbegrenzten Hässlichkeiten“, so ein Aktivist der Gruppe Cafe Morgenland, die 1997 im hessischen Babenhausen eine Kundgebung organisierten, nachdem ein Brandanschlag auf zwei Gebäude verübt worden war, die der jüdischen Familie Merin gehören. Von Übergriffen, rassistischer Gewalt und fremdenfeindlicher Politik berichtet auch Die leere Mitte, aber ebenso sind Architekturpolitik, der Ausruf einer sozialistischen Republik von Besetzer:innen, Aufenthaltsgenehmigungen, deutsche Kolonialgeschichte oder biografische Fluchtgeschichten lose Leitlinien. Über einen Zeitraum von acht Jahren beobachtet Steyerl die nach dem Mauerfall brachliegende Fläche zwischen Potsdamer Platz und dem Reichstag in Berlin Mitte, ein Kristallationsort historischer und aktueller Konflikte. (ds)
PROGRAMM 2, 06.12.2023, 20:30 Uhr
Land des Lächelns, 1990, Farbe, 3 min
Deutschland und das ich, 1994, Farbe, 42 min
Regie: Hito Steyerl, Kamera: Meike Birck, Matthias Rajmann, Montage: Hito Steyerl, Boris Schafgans, Musik: Felix Mendelssohn Bartholdy, Protagonist:innen: Britta Glatzeder, Cora Frost, Arnulf Baring, Gunter Hofmann, Produziert von: Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF)
How not to be seen: a fucking didactic educational .MOV file, 2013, Farbe, 16 min
Regie: Hito Steyerl, Kamera: Christoph Manz, Kevan Jenson, Artdirection: Esme Buden, Alwin Franke, Choreografie und Performance: Arthur Stäldi, Produzent: Kevan Jenson
East meets West und vice versa (dazu Schlagermusik), Identitätsdebatten und 13 Methoden unsichtbar zu werden. Im Fokus von Deutschland und das ich steht die Frage nach der nationalen Zugehörigkeit nach der Wende und mit ihr welche Folgen die Wiedervereinigung für die deutsche Identität unter geänderten Rahmenbedingungen hat. Ein „Heimatfilm“ so Steyerl wohl nicht ganz unironisch, der während ihres Dokumentarfilmstudiums entstanden ist, zahlreiche Gespräche und Diskussionen zeugen von diesem Kontext. Die Engführung dissonanter Stimmen, aber auch unterschiedlicher Bildtypen (wie Demonstrationen, Kundgebungen und Staatsbesuche) zeigt sich bereits hier als eines ihrer Markenzeichen. In der Gegenwart unsichtbar zu werden, ein geradezu politischer Akt, erfordert die Größe eines Pixels; – How not to be seen liefert Handlungsanleitungen gegen ein umfassendes Überwachungssystem. (ds)
PROGRAMM 3, 07.12.2023, 18:00 Uhr,
Filmmuseum Wien und sixpackfilm in Kooperation mit der Kiew Biennale
Film & Gespräch, Hito Steyerl im Gespräch mit Oleksiy Radynski (in Englisch)
Chornobyl 22, 2023, Farbe, 20 min, Ukainisch/Russisch mit engl. Ut.
Regie: Oleksiy Radynski, Kamera: Max Savchennko, Montage: Taras Spivak
PROGRAMM 4, 07.12.2023, 20:30 Uhr
Adornos Grey, 2012, s/w, 14 min
Regie: Hito Steyerl, Kamera: Leon Kahane, Produktion: Maike Banaski, Anna-Victoria Eschbach
In Free Fall, 2010, Farbe, 32 min
Regie: Hito Steyerl, Kamera: Kevin Jenson, Christoph Manz, Montage: Cristóvão dos Reis, Protagonist:innen: Mike Potter, Imri Kahn, Hito Steyerl, Kevan Jenson, Commissioned by Chisenhale Gallery, Collective Gallery, Picture This
Guards, 2012, Farbe, 20 min
Regie: Hito Steyerl, Kamera: Kevan Jenson, Montage: Cristóvão dos Reis, Protagonist:innen: Ron Hicks, Martin Whitfield, Corey Burage, Modesto Correa, Darrell Evans, Produziert von: Art Institute of Chicago
Theodor W. Adorno ließ seinen Hörsaal grau ausmalen, weil der Legende nach grau die einzige Wandfarbe sei, bei der es möglich erscheint, sich zu konzentrieren. Grau ist in der Freilegung einzelner (Wand)-Schichten keines mehr zu finden, dafür die Geschichte, dass der Oben-Ohne-Tanz von drei Studentinnen 1969 zu Adornos letzter Vorlesung führte. Ein Lehrstück Steyerl´scher Kompositionsarbeit ist auch In Free Fall, in dem sie die Biografie eines Objektes, der Boeing 4X-JYI, zusammen stellt. Was dieses Flugzeug u.a. mit den Filmen Hell´s Angel (Howard Hughes, 1930) und Speed (Jan de Bont, 1994), der israelischen Luftwaffe und der Geiselbefreiung in Entebbe Mitte der 1970er Jahre, der digitalen Revolution und aktueller Kunstproduktion zu tun hat, wird in einer aberwitzigen, gleichzeitig selbstreflexiven Recycling-Tour durch die Schleifen des Kapitals erläutert. Guards verknüpft die Bezüge zwischen Kunst und Militär via eines Rundgangs durch einen Ausstellungs-Parcours. (ds)
PROGRAMM 5, 08.12.2023, 18:00 Uhr – Q & A mit Hito Steyerl und Michael Loebenstein
Abstract, 2012, Farbe, 8 min
Normalität 1,2,5,6,8, 1999 – 2001, Farbe, 23 min
Regie: Hito Steyerl, Kamera: Marcus Carney, Hito Steyerl, Musik: Arnold Schönberg
Journal No1 – an Artist´s Impression, 2007, Farbe, 21 min
Regie: Hito Steyerl, Montage: Stefan Landorf, Zeichnungen: Arman Kulasic, Produzent: Boris Buden, Mitwirkende: Arman Kulasic, Halid Bunic, Devleta Filipovic
November, 2004, Farbe, 25 min
Regie: Hito Steyerl, Montage: Stefan Landorf, Protagonist: Uli Maichle, Produzentin: Marta Kuzma für Manifesta 5
„Shot – Countershot: Die Grammatik des Kinos folgt der Grammatik der Schlacht.“ (HS) In Abstract sucht Steyerl einen von Kurd:innen beanspruchten Ort im Osten der Türkei auf, an welchem 1998 im Zuge eines Angriffes einer türkischen Spezialeinheit 39 Menschen getötet wurden. Anhand filmischer Mitteln wird der Ort der Tat mit dem Ort der Waffenproduktion verknüpft. Auch der Episodenfilm Normalität nimmt Tatorte in den Fokus, rechtsradikale Übergriffe bzw. antisemitisch motivierte Gewalt in Deutschland und Österreich. Journal No1 ist der Versuch, die erste bosnische Filmmonatsschau aus dem Jahr 1947, die während der Jugoslawienkriege 1993 zerstört wurde, zu rekonstruieren. Die Wechselbeziehungen zwischen Fakten und Fiktion untersucht November, in dem die kurdische Widerstandskämpferin Andrea Wolf von der Martial Arts Darstellerin auf die Seite der Revolutionär:innen wechselt. (ds)
PROGRAMM 6, 08.12.2023, 20:30 Uhr
Lovely Andrea, 2007, Farbe, 30 min
Regie: Hito Steyerl, Performerin und Regieassistentin: Asagi Ageha, Montage: Stefan Landorf, Produzent: Osada Steve für documenta 12
Liquidity Inc., 2014, Farbe, 30 min
Regie: Hito Steyerl, Kamera: Christoph Manz, Kevan Jenson, Musik: Brian Kuan Wood, Melody Sheep, Kassem Mosse, Commissioned by: David Riff, Ekaterina Degot für Bergen Assembly
Strike, 2010, Farbe, 28 Sekunden
“Be water my friend“ (Bruce Lee). In Lovely Andrea begibt sich Steyerl auf die Suche nach einer Bondage Fotografie, die sie 1987 als Filmstudentin in Japan von sich machen ließ. Nicht nur medienimmanent entsteht ein Geflecht aus Pornoindustrie, Kunstdiskurs, Politik, Punk- und Popkultur, in dem u.a. Aufnahmen von Folterungen im Gefangenlager Abu Ghraib ebenso Platz finden, wie der zensurierte Trailer zu Spider-Man. Jacob Wood, ehemaliger Investmentbanker, ist der Protagonist von Liquidity Inc, dessen Erzählfragmente vom Internetboom um 1995 bis zum Finanzcrash 2008 reichen. Auf der visuellen Ebene zeigt sich Steyerls Faible für das Spiel mit digitalen Technologien, Interfaces, Augmented Reality, automatisierter Bildproduktion und unterschiedlichen Displays; Humor und Nervenzusammenbruch inklusive. Strike. (ds)
Eine Kooperation zwischen sixpackfilm und dem Österreichischen Filmmuseum
Programm: Dietmar Schwärzler
Österreichisches Filmmuseum
Augustinerstraße 1
1010 Wien
Kartenreservierungen: 533 70 54 oder online: www.filmmuseum.at